Das verflixte 30ste Lebensjahr. Schon Ingeborg Bachmann hat in der Erzählung Das dreißigste Jahr ihren Protagonisten hinunter ins Bodenlose stürzen lassen, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Kara, aus Deniz Utlus Roman Gegen Morgen, Wirtschaftswissenschaftler, verfällt in eine Existenzkrise, ausgerechnet während er über einem Forschungsprojekt sitzt, in dem er die Fixkosten des Lebens berechnen soll. Leben, oder wirklich zu leben, ist dabei zunächst eine Behauptung, die erst einmal durch Fakten und den passenden Formeln, bewiesen werden muss. Kara untersucht biografische Fakten, betrachtet alte Fotos, auf denen ihm seine langjährige Freundin und sein langjähriger Freund entgegengrinsen. Mit wütender Hartnäckigkeit bearbeitet sein Verstand diese eine Frage:
Was hat mich dieses Leben gekostet, wie hoch sind meine versunkenen Kosten? Die Kosten von dem, was ich für mein Leben halte?
Ganz ernstnehmen kann man die vom Ministerium bezahlte (!) Forschungsarbeit, die ein philosophisches Problem in allgemeingültige Formeln packen soll, nicht, aber das ist auch nicht der Anspruch des Romans. Vielmehr entwickelt sich an ihr der tiefgründige Erzählstrang, an dem entlang die Geschichte einer Freundschaft dreier junger Männer erzählt wird, an deren Echtheit genauso stark gezweifelt wird, wie an der Behauptung, Lebendigkeit objektiv messbar machen zu können. In diesem Leben, in dem die eigene Selbstoptimierung über dem Imperativ der Großzügigkeit steht, bleiben nichts als leere Herzen zurück, so formuliert Ramon kapitalismuskritisch. Ramon ist derjenige der drei Freunde, der sich nicht einfangen lässt vom System, der Erfahrungen macht, ohne einen vorher kalkulierten Zweck zu verfolgen.
Der Plot beginnt mit der Trennung Karas von seiner langjährigen Freundin Nadia, wegen unterschiedlicher Vorstellungen davon, wie es in der Beziehung weitergehen soll. Sollte eine Familie gegründet werden, ja oder nein? Kara strauchelt, will sich nicht festlegen, nicht das tun, was von einem Mann in den 30ern erwartet wird. Überschwemmt wird er von Erinnerungen, darin tauchen sein bester Freund Vince und eine seltsame Gestalt, Ramon genannt, immer wieder auf. Vince hat sich mittlerweile aufgegeben, sich den Wünschen seiner Freundin ergeben und verlässt die langjährige Wohngemeinschaft mit Kara. Glücklich ist auch er nicht, verzichtet auf das Wagnis, ein Leben anders zu leben, als die Gesellschaft es von ihm erwartet.
Aber wie umgeht man den Tod so vieler anderer Möglichkeiten, wenn man sich auf eine davon festlegt? Gar nicht, man sollte nur mit ihr wirklich zufrieden sein. Eine Familie zu gründen, wäre eine Möglichkeit, die naheliegende in Karas Alter. Doch genau das möchte er nicht, weil er den Tod an Lebendigkeit fürchtet, der mit dieser Entscheidung einhergehen könnte. So fällt Kara immer tiefer ins Bodenlose, beginnt, sich auf die Suche nach Ramon zu machen, der zeitlebens mit Mutter und Schwester in einer Berliner Plattenbausiedlung lebt, für den Rassismuserfahrungen und Armut Alltag sind. Ein rätselhafter und deswegen unglaublich spannender Charakter, Schlüsselfigur des beeindruckenden Romans. Zu Studienzeiten ist er bei Vince und Kara fast täglich in der Studenten-WG aufgetaucht und plötzlich abgetaucht, ohne dass die Freunde nach dem Grund fragen. In der Existenzkrise wird sich der Protagonist bewusst, dass er sich nie wirklich, trotz all der intensiven WG-Gespräche, für Ramon interessiert hat. Das zweite Kapitel wird nicht ohne Grund mit den Worten der Lyrikerin May Ayim eingeleitet: Wir kannten uns immer überhaupt nicht, heißt es dort. Das überhaupt nicht, diese zwei bedeutungsvollen Worte, möchte Kara nicht mehr teilnahmslos hinnehmen und er begibt sich auf die Suche nach dem Menschen, den er eigentlich erkennen müsste, weil er sich von den anderen unterscheidet, ein Außenseiter ist.
Ramon sucht das (wirkliche) Leben. Kara versucht es zu berechnen, ohne es gefunden zu haben. Beide Figuren sind in ihrer einsamen Widerständigkeit zwei Verlorene, finden und verlieren sich immer wieder. Für die beiden Freunde wäre es eine Horrorvorstellung, von den Menschen auf der Straße, die wie Duplikate aussehen, wie Bachmanns leblos-uneigentliche „Molls“, gefressen zu werden. Dagegen kämpfen sie an und nehmen das Gefühl der Bodenlosigkeit dafür in Kauf.
Gegen Morgen rührt mit seinen existenziellen Fragen tief in der menschlichen Seele, an dem, was von ihr (noch) übrig ist. Deniz Utlu hat ein Stück literarische Eigentlichkeit geschaffen, an der man sich als Lesende gerne festhält.