Über wirklich gute Literatur, also Literatur, die nicht einfach nur einen durchkonstruierten Plot von Anfang bis Ende erzählt, sondern aus vielen Einzelteilen besteht, die zerrupft und auf der Bedeutungsebene immer wieder anders zusammengesetzt werden können, ist es schwierig, auch nur einen wahren Satz zu schreiben. Ich versuche es trotzdem, weil ein banales Gesetz den Buchmarkt bestimmt: Es wird das gelesen, worüber man spricht.
Se face că plouă, so tun, als ob es regnet. An diesem Satz aus dem Rumänischen entwickelt sich Iris Wolffs „Roman in vier Erzählungen“. Leise, wie auf Ackerfelder rieselnder Landregen, bildet er die Hintergrundmusik zu Lebensentwürfen einzelner Figuren, die als Figuren der jeweiligen Zeit handeln, in die sie zufällig (?) hineingeboren wurden.
Mitten im sinnlosen Sterben auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs, entsteht in der ersten Erzählung Budapest? zwischen zwei Menschen ein flüchtiger aber deswegen umso intensiverer Moment, so etwas wie aufkeimende Liebe, aus denen die Figuren für die darauffolgenden Geschichten hervorgehen. Dabei ist auffällig, dass es zwar eine Hauptfigur gibt, Henriette, die Nebenfiguren aber so eindrücklich beschrieben werden, dass auch sie sich ins Gedächtnis einprägen.
Jede Figur hat ihre Relevanz, ihren Handlungsradius, erzählt von einer Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten. So erhalten auch potentielle Nebenfiguren, wie die Schwestern von Henriette, ihren einprägsamen Auftritt.
Henriette, Künstlerin und manische Notizenschreiberin, formuliert das ihrer Nichte Hedda gegenüber kurz vor ihrem Tod folgendermaßen, und vielleicht klingt hier der Anspruch von Iris Wolffs Schreibethos durch, auch den Randfiguren in der (historischen) Geschichte, wie zum Beispiel dem als Kanonenfutter dienendem Soldat in der Anfangserzählung, einen Platz in der Literatur einzuräumen:
Es sind nicht unbedingt die Hauptfiguren, die wichtig sind. (…) All jene, die kurz, manchmal nur am Rande erwähnt werden, sie wollen wir nicht vergessen.
Wir wollen sie nicht vergessen, all jene, die zum Spielball der Geschichte wurden und dennoch ihre Spuren darin hinterließen, leise, widerständig und scheinbar unbeachtet darin wirken.
Henriette, die sich schon als junges Mädchen aus dem Augenblick davonstehlen kann, für andere nur körperlich anwesend ist, ist dennoch die herausragende Figur, der Orientierungspunkt, die Heldin der Geschichte(n). Denn sie bricht aus den Normen der Zeit aus, um sich zu einer modernen Frau zu entwickeln, obwohl die Umstände das verhindern müssten.
Vielleicht liegt das gerade an ihrer Fähigkeit, im richtigen Moment geistig abzutauchen:
Se face că plouă, so tun, als ob es regnet, nannte ihre Mutter diese Abwesenheit, die sich immer einstellte, wenn Henriette etwas langweilte oder sehr beschäftigte, andere im Gespräch waren oder auf sie einredeten, oder wenn sie ihr etwas auftrug, das sie nicht mochte.
In dieser zweiten Erzählung über schlaflose Existenzen in einem Dorf in Siebenbürgen, erscheint eines Abends eine vornehme Frau, die Henriette einen Ring im Tausch gegen Nahrungsmittel überlässt und den sie bis zu ihrem Tod trägt. Es kündigt sich an, dass er in einer späteren Geschichte wieder eine Rolle spielen wird, wenn auch nie eine klar definierbare. Genau das ist das faszinierende, rätselhafte und unheimlich-berührende an den Erzählungen von Iris Wolff. Man lebt mit jeder einzelnen Figur mit, egal ob sie männlich oder weiblich ist, erlebt die (historische) Geschichte unterschwellig zur eigentlichen Handlung wie ein schicksalhaftes Hintergrundrauschen. Symbolisch aufgeladene Gegenstände, wie das genannte Schmuckstück, verstärken dabei die Spannung, die entsteht, weil die Bedeutungsmöglichkeiten vielfältig sind und bis zuletzt keine eindeutige Lesart angeboten wird.
Wir erleben Anfang und Ende der Protagonisten im Fluss der Zeit bis ins Heute, erfahren über Henriettes Nichte Hedda in der letzten Erzählung Wölfe und Lämmer, wie sich das Leben ihrer Tante bis zu ihrem Ende entwickelt hat. Spuren hinterlässt sie wie beiläufig unter anderem durch die Geburt ihres Sohnes Vicco, von dem in Eine Zitrone im All berichtet wird. Nahtoderfahrungen spielen darin eine Rolle, aber vor allem wird erzählt, welch ambivalente und (auch) schmerzhaften Erfahrungen ein junger Mann machen kann, wenn sich die Mutter gegen eine bürgerliche Beziehung entscheidet, weil sie Künstlerin ist, leben möchte wie ein Mann, nicht wie eine sich permanent sorgende Mutter.
Hedda hat den Freiheitsdrang der Tante geerbt, ungebunden lebt sie auf La Gomera in einer Welt, die vor allem Endgültigen geschützt ist, weil sie nach außen hin kaum Tatsachen schuf, die nicht mehr rückgängig zu machen waren.
So tun als ob es regnet ist ein Stück moderne Geschichtsschreibung, in dem auf unaufgeregte und ungemein literarische Weise Figuren in ihrer existenziellen Verletzbarkeit und Geworfenheit durch die Welt(en) wandeln. Ich und Welt gehen dabei miteinander eine Verbindung ein, die sich ohne erzählerische Kraftanstrengungen ergibt.