Kategorie Archiv:Literatur

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Mit wütender Kleinmädchenscham gegen die Regeln im Schlachthaus von Herren Umlauf und Co.

In welchem Alter realisiert ein Mensch, dass das Leben eine andauernde Prüfung darstellt?

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

Marlene Streeruwitz. Nachkommen.
Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

In Marlene Streeruwitz neuem Roman Nachkommen läutet diese Erkenntnis den Übergang zum Erwachsensein ein, in dem keine Mutter der Welt die Protagonistin noch vor der grausamen Realität beschützen kann.

„Nachkommen“  thematisiert den Verfall der Literatur im Kapitalismus, einer „Gesellschaft des Spektakels“. Aber es geht noch um viel mehr. Der Text kreist um die alten, ewig bestätigten Macht(ungleich)verhältnisse nicht nur zwischen den Menschen im Allgemeinen, sondern zwischen Mann und Frau.

Protagonistin ist eine 20-jährige Autorin, die es mit ihrem Romandebüt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Eine lebenskluge Person, die auf die oft gestellte Frage, warum sie denn Literatur mache, dem überforderten Reporter antwortet: „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es eine Suche nach dem Lebendigen. Literatur.“

Auf dieser bitter notwendigen Suche erfährt sich die Protagonistin selber immer mehr als jederzeit auslöschbares Subjekt, und der verfasste Roman entpuppt sich nicht als der erhoffte Halt in der grotesken Wirklichkeit der Bücherwelt. Denn hier wird über Bücher verhandelt, nicht über Romane. Fiktionale, politisch motivierte Geschichten interessieren nicht, interessant ist die Person, die die „kleine Odyssee“ verfasst hat, und darüber hinaus eine junge, schöne Frau ist.

Beklemmend wirkt es, wenn ein anerkannter Verleger betrunken an den Messestand der Autorin wankt und ihr all seinen persönlichen Lebensfrust mit den Worten entgegenschleudert:

„Ich mag euch junge Frauen nicht. Ihr glaubt wirklich, für euch gilt gar nichts. Keine Regeln. Nichts. Ihr glaubt wirklich, ihr könnt mit der Welt machen, was ihr wollt. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könnt mit eurem Geschreibsel einen Eindruck machen.“

Wie kann sie es wagen, sie, Nelia Fehn, die Tochter einer früh verstorbenen feministischen Autorin, mit ihrem Geschreibsel „alles zu ruinieren“? Was genau der Verleger namens Umlauf mit dieser Anschuldigung meint, bleibt mehrdeutig. Besteht der Fauxpas darin, dass sich die Autorin einen anderen Verleger für ihren Erstling ausgesucht hat? Eine andere Vaterfigur, die keine ist aber gerne eine wäre und die selbstständige Autorin durch sein Verhalten nur zu einem unmündigen Kind degradiert? Oder betrifft die Anschuldigung sie direkt, als schreibende Frau? Eine Frau, die ihre Stimme erhebt, und in ihrer eigenen, nicht männlich dominierten Sprache versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben. Ein Ausbruch aus den allgemein anerkannten „Regeln“ des Patriarchats.

Beunruhigend ist es für die alteingesessenen Herren Verleger, wenn sich eine junge, talentierte Frau zu Wort meldet, die gar keine Gedanken daran verschwendet, mit einem von ihnen ins Bett zu gehen. Stattdessen trinkt Nelia Fehn nicht einmal Alkohol, ist Vegetarierin und hält beim Fototermin auf der Messe ein wenig freundlich blickendes Gesicht in die Kamera, weil sie nicht „eines dieser Tausenden grinsenden Frauengesichter“ sein möchte, „die im Bilderdienst des Kapitalismus begraben“ werden. In den Augen der Männer ist sie zickig, nicht domestizierbar, weil sie ihren eigenen Kopf hat. Die viel gefürchtete Wut der Mutter in sich trägt, die sie zwar einsam, aber auch kreativ macht. Eine so ganz unweibliche Emotion und der Grund, warum Nelia ohne leiblichen Vater aufwächst. Brutaler noch: wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen, wäre sie niemals geboren worden. Mit wütenden Frauen ist nicht gut Kirschen essen. Dann lieber eine vierzig Jahre jüngere Geliebte, die mit blondierter Haarverlängerung zum Herrn Professor aufblickt und das Bild der unkomplizierten, sanftmütigen Frau verkörpert.

Mit diesem Vater möchte die Autorin eigentlich nichts zu tun haben. Auf der Buchmesse in Frankfurt taucht er jedoch plötzlich auf, ein Totgeglaubter, der ihr gegenüber seine Besitzansprüche äußert. Weil er doch auf seine Tochter stolz ist. Einen Menschen, den er niemals kennen lernen wollte.

Wiederum ist es die Wut, die Nelia widerständig macht und trotzdem nicht verhindert, dass sich beim Fernsehinterview die verinnerlichte, leidige „Kleinmädchenscham“ in ihr ausbreitet. Nur weil sie es gewagt hatte, vor der Kamera eine authentische, also ungewöhnliche Aussage zu machen. Eine Aussage, auf die sie stolz hätte sein können, wenn sie sich nicht gleichzeitig sicher gewesen wäre, dass das kleine, unerfahrene Mädchen gegen die Regeln des „Schlachthauses“ verstoßen hatte:

„Da müssen die durch, wurde da gesagt. Wenn sie (Mädchen) mitmachen wollen, dann müssen sie das aushalten, wurde da gedacht. Die müssen das auch lernen. Einführungen in die Regeln des Schlachthauses wurden da abgehalten. Seminare der Selbsterniedrigung waren das und durchaus für alle.“

Wer gegen die Regeln à la Umlauf und co. verstößt, wird schneller als Frau denkt, zum Verschwinden gebracht. Vegetarierinnen sind da besonders gefährdet. Kein Schlaraffenland für diejenigen, die aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten und dann nicht einmal wenigstens ihr eigenes junges Fleisch den Schlächtern zum sexuellen Genuss anbieten.

Wer diese Romanbesprechung liest mag denken, Marlene Streeruwitz sei eine Männerhasserin. Das ist sie nicht. Denn die meisten Frauen kommen auch nicht wirklich gut weg. Sympathisch sind nur diejenigen, die sich mit der Autorin auf irgendeine Weise verbünden und ihr ihre Solidarität bekunden. Wenn der Feminismus nach diesem grandiosen Text auch in einer aussichtslosen Sackgasse angekommen zu sein scheint, wird doch eine Möglichkeit sichtbar, wie sich die schreibenden Stimmen der Frauen gegen den Schlachthauswahn behaupten könnten, um mehr als bloß darin zu existieren:

Durch eine aufkeimende Solidarität untereinander, die den allgemeinen Konkurrenzgedanken ausschaltet und alteingesessene Männerklüngeleien aufmischt.

Die Protagonistin ergreift zunächst die Flucht vor dem „Schlachthaus“. Doch wir können uns sicher sein, dass die Wut ihrer toten Mutter in ihr weiterlebt und sie dazu antreiben wird, einen weiteren Roman zu schreiben.

Weil sie gar nicht anders kann, wenn sie denn am Leben bleiben möchte. Ein Zombiedasein wie das ihres Vaters wird sie niemals führen, da sie sich im Gegensatz zu ihm nicht im Unbewussten verliert, sondern sich den tagtäglichen Lebensprüfungen wie eine Erwachsene stellt. Weil sie zum Lebendigsein dazugehören:

„Es ging am Ende darum, wer im Leben am Leben bleiben hatte können und wer da schon tot gewesen war. Dieser Mann war einer von diesen unbewussten Zombies. Dieser Mann war ein Vampir und brauchte das Blut junger Frauen. Die Mami hatte ganz einfach recht gehabt.“

Marlene Streeruwitz hat es mit ihrem Roman leider nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft. Es ist selbsterklärend, warum nicht.

Peter Kurzeck: Ein Erzähler ohne Bewusstseinstrübungen

„Sich erinnern. Und auch wer wir selbst sind. Sich erinnern und heimfinden.

               Wie die Zeit vergeht.“

(Kurzeck, Peter. Als Gast. Frankfurt, 2012)

Der Autor Peter Kurzeck

Der Autor Peter Kurzeck. Foto von Wikimedia Commons / „Liberal Freemason“ – CC3.0

Im Erinnerungsfluss sich sein Leben erzählen. Der Frankfurter Autor Peter Kurzeck hat es ein Lebtag lang versucht. Immer wieder nach den richtigen Worten gesucht, um sich sich selbst in dieser Welt überhaupt vorstellen zu können. Im Hier und Jetzt. An der Bockenheimer Landstraße entlang ins ausgestorbene Westend hinein. Ein einsamer Fußgänger mit Vergangenheit, vergangener Zeit, an die er nicht aufhören kann, sich zu erinnern. Ein Wettlauf gegen die Zeit mit der Zeit; wohin werden ihn seine müden Beine tragen?

Peter Kurzecks mehrteilig-unvollendetes und im Frankfurter Stroemfeld Verlag erschienenes Romanprojekt „Das Alte Jahrhundert“ erfordert Konzentration und die Bereitschaft sich voll und ganz einzulassen auf einen Protagonisten, der sich ohne gesunden Selbstschutz seiner Mitwelt aussetzt. Der wie ein Schwamm sämtliche, auf ihn einstürzenden Erfahrungen in sich aufnimmt, um dann damit zurecht zu kommen. Es gibt für ihn keinen Alkohol (mehr) und auch keine sonstigen Drogen, um die Wirklichkeit erträglicher zu empfinden.

Kurzeck. Als Gast. Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Als Gast.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Wenn man sich hinein begibt in diesen dichten Erzählstrom, dann eröffnen sich Wahrnehmungswelten, die eine vergangene Zeit lebendig werden lassen. Im Roman „Als Gast“ z.B. die beginnenden 80-er Jahre in Frankfurt Bockenheim:

„Eine Frau. Nicht mehr jung. Leere Einkaufstaschen. Im Kopf eine lange Liste mit Sorgen und alles, was sie nicht vergessen darf. Vielleicht lacht sie gern, aber hat schon lang nicht gelacht und weiß nicht mehr, dass sie gern lacht. Weiß nicht mehr, wie es geht. Vielleicht eine Griechin, die am Rand von Bockenheim oder in Ginnheim, in Hausen, in Rödelheim wohnt und hat eine Arbeit bei Hartmann und Braun oder im HL, beim Plus, beim Penny, beim Aldi, beim Schlecker zur Aushilfe und dazu noch vier Putzstellen. Alle Tage eine große Familie oder schon lang mit sich selbst allein.“ (Als Gast S. 412)

Voller Empathie betrachtet der Protagonist eine unbekannte Frau, dichtet ihr ein Leben an, das genau so sein könnte. In der Phantasie des Beobachters ist auch sie mit ihren Sorgen ganz alleine, kämpft jeden Tag neu ums Überleben. Beim Lesen von Kurzecks Romanen werde ich manchmal an den Frankfurter Autor Wilhelm Genazino erinnert, weil auch er Seite um Seite mit Beschreibungen alltäglicher Szenen auf der Straße füllen kann. Worin sich beide allerdings unterscheiden, ist die emotionale Ebene. Den Figuren Genazinos fehlt die empathische Anteilnahme in der Beobachtung; sie empfinden bestenfalls Mitleid für ihr Gegenüber. Personen oder Geschehnisse werden dabei vom Ich-Erzähler mit einer entlarvenden Schonungslosigkeit beschrieben, zu der Kurzecks Figuren niemals fähig wären.

Vielleicht halte ich Kurzeck deswegen für einen politischen Autor. Weil er es durch seine sensiblen Alltagsbeschreibungen erreicht, ohne forciert-moralisierenden Grundtenor auf soziale Missstände hinzuweisen. Beobachtete, fremde Objekte werden in den Selbstgesprächen des Ich-Erzählers zu Subjekten mit einer eigenen (leidvollen) Geschichte, die er erzählen muss, weil er sich ein stückweit auch immer mit ihnen identifiziert. Sein eigenes Leben in den beschriebenen, (fiktiven) Geschichten der Anderen wiederfindet. Aus diesem Grund braucht er manchmal auch einen ganzen Tag für ein paar Sätze. Die Arbeit eines Schriftstellers lässt sich nicht alleine am schriftlich fixierten output messen; die oft zermürbende Sammelei von Eindrücken gehört genauso dazu. Aber erzähle das einmal dem Arbeitsamt:

„Und wenn Sie nicht schreiben? fragt Anne. Die Pausen? Trotzdem, sagte ich, auch wenn man nur anderthalb Sätze am Tag, man braucht immer den ganzen Tag dafür!“ (Als Gast. S. 408)

Die innerliche, einsame, von Selbstzweifeln erschütterte Schreibarbeit hört niemals auf. Zeitmangel ist deswegen immer vorhanden, weil die Ruhepausen fehlen, in denen die Zeit gefühlt langsam verstreichen könnte:

„Im Verzug, sagte ich. Mit der Arbeit und mit meinem Leben. Seit Jahren schon und mit jedem Jahr mehr! Sagt man in oder im Verzug? Vergangen die Zeit!“ (Als Gast, S. 395)

Seiner Schreibarbeit bleibt er auf die Art immer etwas schuldig, hinkt den zu vollendenden Sätzen hinterher. Er klingt wie ein genervter Chef, der seinen Angestellten darauf hinweist, dass er die Arbeit zu langsam erledigt hat und deswegen ein elender Versager ist. Arbeit und Leben gehen eine unentwirrbare Sinnsymbiose ein, die für heutige, vom Kapitalismus geprägte Lebensentwürfe oft selbstverständlich scheint. Peter Kurzeck übernimmt dabei typisch formalisierte Begriffe aus der Arbeitswelt, um damit sein Außenseiterleben als Schriftsteller infrage zu stellen. Der Protagonist weiß, wie es zugeht in der Welt des Broterwerbs und hat sich eines Tages für den unsicheren Weg entschieden, weil es nicht anders ging. Die Worte in seinem Kopf, auf dem Gehsteig oder im Eiskaffee aufgesammelt, in eine Form gebracht werden mussten. Der Frau auf dem Sozialamt, wie sollte er ihr nur erklären, was er da tat. Etwas ohne sichtbares Resultat für diejenigen, die nicht richtig hinsehen wollten. Diejenigen, die nicht wie er dem Bann der Sprache verfallen waren, keine Sprachpoesiejunkees weit und breit in den Büros, die fühlten, was er empfand. Und trotzdem. Immer wieder. Auch wenn er oft nicht mehr wollte, sich nach einer „ordentlichen“ Arbeit sehnte, nach einer anerkannten Existenzberechtigung. Solange sich ihm die Worte immer wieder auf seinen Streifzügen durch die Stadt aufdrängten, sich ohne kurze Bewusstseinstrübung ihren Erzähler holten, blieb ein kleiner Trost. Er konnte so tun, als ob wenigstens die Zeit in solchen Momenten ganz ihm gehörte:

Kurzeck. Übers Eis.<br /> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Übers Eis.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jetzt auf dem Heimweg im Gehen im Kopf schon zu schreiben anfangen. Als ob mir das zusteht. Arbeitslos, Schriftsteller. Daß es eine Zeit gibt. Daß die Zeit mir gehört. Und auf jedem Weg dir weiter dein Leben ausdenken.“ (Kurzeck. Ein Kirschkern im März. S. 220 Band 3)

Peter Kurzeck wurde als kleiner Junge 1946 mit seiner Familie aus dem Sudetenland vertrieben und verbrachte seine Kindheit mit seiner Mutter und Schwester in Staufenberg bei Gießen. Das Vorwort aus dem dritten Band „Ein Kirschkern im März“ lautet dann bezeichnenderweise auch: „Von weither und fremd, überall fremd. Aus Böhmen und ohne Haus.“ Fremdheit ist der durchgängige Hintergrundblues in den Bänden „Das Alte Jahrhundert“. Auch bei guten Freunden fühlt sich der Protagonist nur als „Gast“. Ein Traumwandler, der sich seines Zustandes von Jahr zu Jahr bewusster wird, ihn aber auch bei anderen wahrnimmt:

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.<br> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jeder in seinem eigenen Traum, zeitlebens in seinem eigenen Traum gefangen.“ (Peter Kurzeck. Übers Eis. Seite 142. Band 1)

Wie können der fortschreitende Wirklichkeitsverlust gestoppt und mögliche Alpträume verhindert werden? Eigentlich durch neu gemachte Erfahrungen, dadurch, dass der Protagonist nach vorne schaut und schmerzreiche Erinnerungen schriftlich verarbeitet werden. Genau das geht nur mithilfe der Worte, dem permanenten Versuch, unbeschreibbares auszubuchstabieren. Aus dem Inneren herauszuschreiben und sich der Öffentlichkeit zu erklären. Um sich dann Schritt für Schritt seiner eigenen Existenz in dieser Welt gewiss zu werden.

Trotz der oft sehr schwermütigen Stimmung in Kurzecks Poetologie bleibt zuletzt immer die Hoffnung auf eine bessere Zeit. Hoffnungsboten sind die Kirschkerne im März, die unter der Schnee- und Frostdecke überwintert haben. Sie erzählen vom Frühling, der die müde Kälte vertreibt und die Lebensgeister weckt. Den Frühling 2014 konnte Peter Kurzeck nicht noch einmal erleben, weil der neblige November stärker war. Der Monat im Jahr, in dem die guten Geister sterben. Vielleicht findet dieser Blog im Gedenken an diesen besonderen und leider viel zu unbekannten Schriftsteller Leser/innen, die trotz Hektik und Stress im Alltag weiterhin auf die Kirschkerne und deren glückversprechende Nachricht achten. Damit wir, mit Kurzeck gesprochen, nicht selbst „zu Gespenstern werden“, sondern hellwach unseren individuellen Geistern ihren Überlebenswillen zurückgeben.

I hope so.

„Noch einmal die Seestraße entlang. Müd, immer müder. Die Zeit ruckt. Und jetzt kommt die Dämmerung. Grün die Luft, Abend. Und in allen Höfen, in jedem Baum, unter jedem Küchenfenster singt eine Amsel. Vorfrühling, ein langer schmerzhafter Vorfrühling.“ (Kurzeck. Kirschkern. S. 232)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl“ (Kurt Wolff)

Auf diesen Satz von Kurt Wolff einen neuen Anfang setzen. Nicht, dass ich prinzipiell etwas gegen Zahlen hätte. Nein. Sie spielen heutzutage nur eine zu große Rolle, nicht allein im Verlagsgeschäft. Die Zahlen müssen stimmen, an der „Wahrheit“ der Worte darf gezweifelt werden. Zahlen stehen fest, zeigen „Tatsachen“ auf, die in ihrer Unanfechtbarkeit eine Art beruhigenden Boden unter den Füßen darstellen. Da ist etwas, woran man sich halten kann, kein beunruhigendes „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) durchbricht das bestehende System. Warum auch? Für Beunruhigung sind die Worte zuständig, die uns in Sätze gefasst, immer wieder eine neue Sicht auf die Welt, mitten in ihr, geben.

Mein Blog soll eine Bühne für Sprache sein. DER Ort einer marginalisierten Spezies, der hier alle Redezeit der Welt eingeräumt wird. Denn die Auseinandersetzung mit (guter) Literatur braucht Zeit, an der es nach den Worten der Schriftstellerin Lili Grün bereits in den 1920-ern  gefehlt hat. Sehnsuchtsvoll-scharfsinnig bemerkt sie in ihrem „Tagebuch“:

„Ich möchte so schrecklich gerne wissen, wie das früher war, als es nach Aussagen einiger maßgebender Persönlichkeiten noch Menschen gab, die Zeit hatten! Heute kenn‘ ich nur noch Leute, die mich furchtbar verachten würden, wenn ich es wagen würde, anzugeben, daß ich manchmal Zeit habe oder zumindest mir die Zeit suche, aus dem Fenster zu sehen und ein bißchen zu träumen, ziel- und planlos spazierenzugehen oder ähnlichen Unfug zu treiben. Ein Mensch, der nicht gehetzt, gejagt, übernervös und stets unausgeschlafen ist, hat keinen Chic, kein Format und keine Existenzberechtigung!“ (aus: Grün, Lili. Mädchenhimmel! Berlin, 2014. Aviva Verlag)

Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem oft nicht einmal mehr der kurze Reflexionsmoment bleibt, um sich darüber bewusst zu werden, dass es uns an Zeit mangelt. Eigentlich eine ganz gute Verlustverdrängungsstrategie, eine Entwicklung hin zum emotionslosen Arbeitstier. Wünsche nach einer anderen, früheren, besseren Zeit, wie sie Lili Grün geäußert hat, kommen auf diese Art erst gar nicht auf. Dabei sind Wünsche, die gerade im Reflexionsmoment, im Augenblick des ganz-bei-sich-Seins entstehen, so ungemein wichtig um ein eigenständiges Denken zu entwickeln. Vielleicht wäre der Holocaust verhindert worden, wenn sich Lili Grüns allgemeiner Wunsch nach mehr Gedankenzeit erfüllt hätte. Vielleicht hätte ihr gewaltsamer Tod im Konzentrationslager Maly Trostinec in Weißrussland niemals stattgefunden, weil ideologisch-mordende Massenbewegungen die Geister mit individuell entstandenen Einsichten nicht beeindrucken können.

Die bereits angekündigte „Bühne“ soll besonders denjenigen Stimmen in der Literatur ein Ort der Ausdrucksmöglichkeit sein, einen öffentlichen Raum für ihre eigene Performanz geben, die im literaturgeschichtlichen, historischen Gedächtnis aufgrund äußerer Umstände, politischer Verfolgung und Unterdrückung in Vergessenheit geraten sind. Sicher wird dabei die weibliche Stimme, das weibliche schreibende Subjekt eine besondere Rolle spielen. Achtung! Dies ist kein reiner Feminist/innenblog! Aber er hat, wie im Untertitel angekündigt, „Politik im Blick“. Und dazu gehört das weibliche, unterdrückte Schreiben ebenso untersucht, wie das männliche. Mit dem Unterschied, dass bei der Frau immer schon eine verschärfte Unterdrückung (Patriarchat, meint, soziale Rolle der Frau in der Familie+jeweilige Staatsform) stattgefunden hat. Nicht ohne Grund sind uns z.B. kaum Schriften schreibender Frauen aus der Antike oder dem Mittelalter bekannt. Dementsprechend gibt es Nachholbedarf beim Entdecken unbekannter Autorinnen, beim Ausgraben verschütteter Gedanken, die eine andere Sicht auf sozialpolitische Umstände geben. Ob der „Geist der Erkenntnis“ nach Hegel seine Stufen in einer Aufwärtsbewegung nimmt, oder immer wieder bis heute unweigerlich ins Stolpern gerät, sprich: unsere Welt wirklich eine bessere, „vernünftigere“ geworden ist, gilt es zu untersuchen. Auf Lili Grüns thematische Aktualität habe ich bereits verwiesen, ihr Wunsch nach mehr Zeit, und der Berechtigung, sich diese ohne Gesichtsverlust zu nehmen, ist ohne weiteres in unsere Gegenwart übertragbar. Ihre Sehnsucht nach einer Existenzberechtigung, ohne zugleich eine ökonomisch messbare „Leistung“ vorweisen zu müssen, weil der Mensch, mit Kant gesprochen, seinen Wert immer schon in sich selbst trägt, geht im Zahlenrausch unserer kapitalistischen Gesellschaft unter.

Aber Zahlen können ihre Anziehungskraft verlieren. Die Alternative zu ihnen muss nur stark genug aufleuchten. Denn schließlich sind wir alle Konsument/innen, und wenn das neue Angebot attraktiver erscheint als das alte, dann schlagen wir doch zu, oder? Vielleicht machen die vorgestellten literarischen „Schätze“ im Blog „Literatur(kritik) mit Politik im Blick“ dabei ganz beiläufig die unbekannte Epoche wieder lebendig in der Menschen noch Zeit hatten und lässt einen Daseinszustand aufscheinen, an den sich niemand wirklich erinnern kann. Solange er in der Phantasie einzelner besteht, gibt es jedenfalls die Möglichkeit, ihn in der Literatur herbeizuschreiben, um seinen fiktionalen, revolutionären Hauch von Freiheit zu spüren. Damit wir uns, plötzlich übermütig-mutig geworden, im Alltag von Zeit zu Zeit darin aufhalten.

 

 

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