„Warum läuft Kind C Amok?“ Der Titel des Romans von Kristina Nenninger stellt vordergründig eine Frage, und enthält gleichzeitig eine Hoffnung. In roten Buchstaben verspricht er Antwort(en) zu geben darauf, wieso Carla, ein pubertierendes, aber eigentlich liebenswertes Mädchen, irgendwann ihrem Hass freien Lauf lässt, und tötet.
Carla wächst beim Vater auf, nachdem sich die Mutter Berta dazu entschließt, einen zweiten Frühling erleben zu wollen. Ohne ihren langweiligen Mann, der sie mit seinen Sorgen und Ängsten, kurzum mit seiner Gefühlsduselei, an einen Versager erinnert. Er ist in ihren Augen ein „Berufspessimist“, der mehr „Wurschtigkeit“ bräuchte, um Glück im Leben zu erfahren. Berta selbst möchte von Gefühlen nichts wissen, tanzt sich durch die Nächte, sucht die Sorglosigkeit der vergangenen Jugend.
Eigentlich sind alle drei Protagonisten potentielle Amokläufer, weil jeder für sich damit beschäftigt ist, in der kalten Welt da draußen zu überleben. Die Erwachsenen allerdings finden Strategien, mit denen sie ihre Emotionen nach außen, in den frostigen November tragen können, ohne jemand anderen dabei – jedenfalls physisch – zu verletzen. Die Mutter tanzt und vögelt wahllos, der Vater rettet sich an die Staffelei, um zu malen.
In „Warum läuft Kind C Amok?“ werden einfache, sympathische Gemüter beschrieben, mit zuviel oder mit zuwenig Empathie, aber vor allem mit lähmender Sprachlosigkeit. Dabei kündigt sich das Drama schon auf den ersten Seiten des Romans an.
Der Vater Anton erinnert sich bei der heimlichen Ausführung seines Hobbys, dem Malen, an ein Ereignis, das ihn einmal schwer beeindruckt hatte. Wie eine Art Vision inszeniert die Autorin seinen Monolog an der Staffelei, eine eindrückliche Schlüsselszene des Textes:
„Anton denkt: Und Raum und Zeit, die wachsen hier in die Steine und in die Matten und in die Bäume in eine Weite hinein und gar nicht wie in der trüben Stadt in die starren und starren Häuser nach oben! Denkt Anton, und das macht ihn froh, und der Pinsel in der Hand von Anton malt jetzt einen Stamm, langsam und zögernd und leise. Wie wärs denn mit einer goldenen Kette? Eine goldene Kette rund um den Stamm – oder noch einen Baum? Eine dicke Pflanze oder ein Tier? Zugvögel am Himmel womöglich? Oder doch lieber den Leoparden? Aus dem Innsbrucker Zoo? Den letzten Leoparden aus dem Innsbrucker Zoo: Der hat sich ja noch auf jedes zweite Bildchen vom Anton geschlichen. Wundern muss man sich schon, ist aber so! Anton denkt: Was hätt ich den gerne mal gestreichelt! Ein so ein liebes Ding ist nämlich der mal gewesen: So lieb, dass sogar Kinder ihn fütterten, herzten und lachten, sagt Anton (zu sich selbst) und tupft die Pinselspitze in pechschwarze Farbe. Und eines Tages aber, da nimmt der Reißaus, urplötzlich, von einem Tag auf den nächsten, und beißt in den Arm von dem Wärter hinein und tötet zwei Menschen auf seiner Flucht, darunter ein Kind von nicht einmal zweieinhalb Jahren. Dann schießt man ihn tot, und der Wärter sagt nur: Mei, ist halt einsam gewesen, der letzte Leopard im Innsbrucker Zoo (BILD München vom 16.3.1996).“
Unerwartetes stürzt hier in den Zooalltag ein, und zeigt, wie brüchig scheinbar heile Alltagswelten sind. Als Anton seine Frau darum bittet, sich mit ihm über Tochter Carla zu unterhalten, die sich immer mehr vor ihm zurückzieht, verweigert sie sich ihm. Sie ist überzeugt davon, dass nicht Carla ein Problem hat, sondern ihr Exmann. Ganz falsch liegt sie damit nicht, denn auch Anton ist trotz seiner Empathie nicht fähig dazu, an die pubertierende Carla heranzukommen. Er sucht das Gespräch, findet aber nicht die richtige Sprache. Stattdessen zieht er sich heimlich zurück, um sich um seine eigenen Sehnsüchte zu kümmern, seine eigenen Geheimnisse zu bewahren.
Fehlende Kommunikation kann dem Leser einen Hinweis darauf geben, warum Kind C, Carla, die Streberin, die gute Schülerin, die nicht mit auf die Klassenfahrt fahren möchte, Amok läuft. Es werden aber noch viel mehr Verweise, Möglichkeiten, in die Handlung gestreut. Dadurch entsteht eine Deutungsvielschichtigkeit, die eine abgründige, soghafte Spannung erzeugt. Kristina Nenninger ist bisher vor allem als Dramatikerin in Erscheinung getreten, was sich zusätzlich bereichernd auf die Sprache auswirkt, dem Plot eine unverstellte Lebendigkeit gibt. Das Leben ist ein Theater. Kind C., und alle Menschen um es herum spielen mit auf der eisüberzogenen Bühne der Welt.
Warum Carla so völlig aus ihrer Rolle fällt, ausrutscht, und gerade die Menschen, von denen sie geliebt wird, mit in den Abgrund reißt?
Das hat vielleicht, so suggeriert uns der Roman, auch mit den destruktiven, unbegreifbaren Tiefen zu tun, die jeder Mensch in sich trägt, und die nicht ohne weiteres unter dem Stichwort „Sozialisation“ zu fassen sind.
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