Ich erinnere mich, wie ich mit Anfang 20 ein schmales Bändchen mit dem rätselhaften Titel: Das Licht brennt ein Loch in den Tag geschenkt bekam. In ihm beschrieb der Autor Wilhelm Genazino, den ich aufgrund seines Namens erst für einen Italiener hielt, einen Ich-Erzähler, Herrn W., der sich wünscht, seine Erlebnisse mündlich und in Briefen seinen Freunden mitteilen zu dürfen. Er hat Sorge, dem Verlust des Gedächtnisses sonst nicht entgehen zu können und hofft, die anderen würden ihm irgendwann dabei helfen, die eigenen biographischen Gedächtnislücken zu schließen. Der Text faszinierte mich, ohne dass ich damals hätte sagen können, was daran genau.
War es der männliche Blick des Protagonisten auf seine Umgebung, die Tatsache, dass ich so schonungslos genau durch die Bewusstseinsbrille einer Figur schauen durfte, um in ihren nicht enden wollenden Selbstreflexionen abzutauchen?
Nur ein paar Jahre später stand mir der Autor als Kunde in der Karl-Marx-Buchhandlung, in Frankfurt-Bockenheim, gegenüber. Seine sonst weiche Körpergestalt hatte etwas quadratisches und die leise Stimme mit dem Mannheimer Singsang darin, passte nicht zu ihr.
Von Anfang an bekam ich den beunruhigenden Eindruck nicht los, von seinen wachen, schelmischen Augen beobachtet zu werden. Dass er mich, die Angestellte, betrachtete, um vielleicht doch einmal eine Protagonistin anstelle eines Protagonisten auszuwählen, eine weibliche Arbeitnehmerin, die er in den Unzumutbarkeiten der eigenen Existenz schlafwandeln ließ. Romane erschienen in regelmäßigen Abständen von ihm und ich war immer erleichtert, wenn die Überprüfung der Verlagsvorschauen bestätigte, dass er sich doch wieder für einen Mann „mittleren Alters“ entschieden hatte. Gemischte Gefühle überfielen mich dennoch immer wieder, wenn er plötzlich mit einem seiner Bestellzettel an die Ladentheke trat, ihn mir in die Hand drückte und ich nie ganz einschätzen konnte, was er als nächstes sagen würde, was er wirklich dachte und vor allem, was er sah, wenn er mich anlächelte.
Um mein Unbehagen ihm gegenüber loszuwerden, denn ich mochte ihn sehr, schätzte seine Romane, begann ich, zurückzublicken, Eindrücke über ihn durch zufällige Begegnungen mit ihm zu sammeln. Denn der immer wieder als Flaneur bezeichnete Büchner-Preisträger spazierte nicht nur gerne durch die Gegend. Ich entdeckte ihn zum Beispiel oft donnerstags auf dem Wochenmarkt an der Bockenheimer Warte, wie er genüsslich und in seiner unverkennbar langsamen Ruhe Kartoffelpuffer aß. Dabei beobachtete er wiederum die Spatzen, die in seiner Umgebung auf kleine, aber fettige Happen von seinem Teller hofften.
Auch erinnere ich mich, wie ich ihm dort immer wieder zufällig an der U-Bahn-Station begegnete. Was er hier wohl tat, er, der Fußgänger? Manchmal sprachen wir ein paar Worte miteinander. Dass er die Mäuse in den Schächten für seinen nächsten Roman inspiziert hatte – das erzählte er mir allerdings nie.
Mein ungutes Gefühl, seinem Schriftstellerblick ausgeliefert zu sein, verbesserte sich durch die Gewissheit, dass auch ich ihn betrachten konnte, ich seinem Blick nicht mehr ungeschützt ausgeliefert war. Wirklich änderte daran aber insbesondere eine Begegnung:
Als Stammkunde der Karl-Marx-Buchhandlung gab Wilhelm Genazino dort oft Buchpremieren, noch bevor er im Literaturhaus Frankfurt aus seiner Neuerscheinung las. An einem dieser Leseabende sagte er, als er mir die Hand zum Gruß schüttelte nicht etwa „Guten Abend“, sondern „Sie sind schön“. Der Satz kam ihm so spontan beiläufig über die Lippen, als hätte er gerade den Anfang eines neuen Romans ausgesprochen, die ersten paar Worte. Als hätte er erfahren wollen, wie sie aus seinem Mund heraus in diesem Moment klängen und als würde es ihm um die Frage gehen, ob sie für den richtigen, typischen Genazino-Sound überhaupt taugten. Erleichtert durch diese Erkenntnis hatte ich nie wieder Sorge, in seinen Texten sichtbar verarbeitet zu werden, weil mir bewusst wurde, dass er in erster Linie die Sprache beobachtete und die Objekte oder Subjekte sich ihrer Ästhetik anpassen mussten.
In einem unbemerkten Moment steckte ich intuitiv wie zur Bestätigung meiner Eindrücke einen Bestellzettel von ihm in meinen eigenen Notizblock, auf dem er in fein säuberlicher Schrift Autor, Titel, Verlag und Erscheinungsjahr seiner Buchbestellung notiert hatte, den ich seitdem hüte wie einen Schatz.
Am Mittwoch, den 12. Dezember 2018, meinte ich noch den Autor an der Konstablerwache gesehen zu haben. Ich kniff ungläubig die Augen zusammen, denn ich hatte ihn stets in Bockenheim angetroffen und das gleissende Licht, das den dichten Nebel in diesem Moment für kurze Momente durchdrang, trübte meinen Blick. Zwei Tage später las ich von seinem Tod. Er konnte es nicht gewesen sein. Leider.
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