Füße erzählen Geschichten. Dabei sprechen Form, Abgenutztheit, Ästhetik erst einmal für sich. Aber auch ihre BesitzerInnen nutzen die Zeit gerne für einen Plausch mit derjenigen Person, die ihnen Gutes tut. Ob dieser Gedanke implizit Anreiz für die Autorin war, nach erfolgloser Verlagssuche für ihre Bücher, eine Ausbildung als Fußpflegerin zu absolvieren, oder doch die eigene midlife-crisis? Auf der Suche nach neuen Erfahrungen, um diese literarisch zu verarbeiten, sind alle guten Autorinnen und es ist ein kaum zu beschreibender Gewinn für die Literaturwelt, dass sich Katja Oskamp ausgerechnet in einem Fußpflegesalon im tiefsten Osten Berlins eingerichtet hat. Die tastenden, sensibel-fühlenden Hände dabei wohltuend auf den Füßen der Kundinnen und Kunden, die Ohren weit offen.
Es sind vor allem „reparaturbedürtige“ Kunden, die die Autorin bedient. Herr Paulke etwa, der bei „Autotrans“, einer der größten Speditionen der DDR, gearbeitet hat. Menschliche, berührende Momente entstehen, in denen der Kunde mehr ist, als ein Stück Fleisch, das schnellstmöglich und zeitlich effizient bearbeitet werden muss. Oskamp nimmt sich viel Zeit für ihre Begegnungen:
Ich cremte ihm an jenem Septembertag vorsichtig die Füße ein, zog die Handschuhe aus und Herr Paulke Socken und Schuhe an. Er stemmte sich aus dem Fußpflegestuhl. Ich hielt ihm beide Hände hin. Er legte seine hinein. Warme, schlaffe Haut. So angefasst standen wir einander gegenüber, blickten uns an. Es war schön. Es gefiel uns. Es diente auch, aber nicht nur zur Stabilisierung von Herrn Paulkes Kreislauf.
Grotesk-komische Szenen liefert die 65-jährige Frau Blumeier, eine frisch verliebte Rollstuhlfahrerin, der beim Sex mit ihrem Partner „dit Bette eingekracht“ ist. Schon kichernd kommt sie ins Fußpflegeinstitut, um dann irgendwann mit typisch Berliner Schnauze zu erzählen.
Ein Klischee über Marzahn, dass es hier nur so von ehemaligen SED-Funktionären und DDR-Bonzen wimmele, wird durch Herrn Pietsch bestätigt. Er ist „waschechter Parteifunktionär“. Ein einsamer Mensch, den sein autoritäres, machtsüchtiges Verhalten die Zuneigung seiner Frau und Kinder gekostet hat. Er ist auf der Suche nach einer Sexualpartnerin, hat dabei aber wenig Erfolg und versucht es bei seiner Fußpflegerin, weil sie eine „äroudische“ Ausstrahlung hat. Mit einem Piccolo und den Worten „Gute Arbeit, Genossin“ verabschiedet er sich jedesmal, trotz aussichtsloser Anmache denn: Er hat (immer noch) alles unter Kontrolle.
Der Zustand der Füße erzählt viel über das Leben derjenigen, die sie tagtäglich benutzen. Die Marzahner Füße der Kundinnen und Kunden, meist ältere, berichten von harter Arbeit. Ehemalige Krankenschwestern, wie Gerlinde Bonkat, ein „Flüchtling“ aus Ostpeußen, sind dabei. Erst war sie Sekretärin, dann arbeitete sie in einem Kinderheim. Nach der Wende nimmt sie für fünf Jahre bis zur Rente eine Stelle in Berlin Steglitz an, wird als Ostdeutsche diskriminiert. Einmal Flüchtling, immer Flüchtling. Erst zum Renteneintritt liest der Chef ihren beeindruckenden Lebenslauf. Sein Kommentar:
Sie sind ja überqualifiziert!
Das tut nicht weh, antwortet Frau Bonkat und verabschiedet sich.
Doch wieso gibt sich der Mensch überhaupt so viel Mühe mit seinem Äußeren? Zum wohltuenden Effekt einer Fußmassage, gesellt sich jedenfalls immer auch die Ästhetik. Füße, Zehennägel, sind aber doch die meiste Zeit in Schuhen versteckt. Trotzdem dekoriert Oskamps Kollegin Flocke diese mit einer Leidenschaft, die die Autorin sich folgendermaßen erklärt und es sind Sätze wie diese, die dem Buch poetische Tiefe geben:
Vielleicht konzentriert sich manchmal die Schönheit dieser Welt auf einem einzigen Fingernagel.
Die Geschichten, die schlaglichtartig unterschiedlichste Menschen im Alter zwischen 50 und 90 beleuchten, kann man sich gut auf der Leinwand vorstellen. Ein Paul Auster („Smoke“) im Fußpflegesalon wäre das dann. Sie suggerieren, dass der Mensch doch eigentlich nicht viel im Leben braucht, um zufrieden zu sein, es reichen : Zuwendung, Wärme, Gespräche und: alle sechs Wochen eine gute Fußpflege.
Marzahn mon amour ist eine ganz besondere Liebeserklärung, denn er räumt mit Vorurteilen gegenüber einem Stadtteil Berlins auf, dessen Charme sich jenen offenbart, die genau hinschauen und gut zuhören können, die hinter den Betonschichten nach vergrabenen (Lebens-)erinnerungen forschen, sich nicht durch farblose Oberflächen abschrecken lassen.
Die Erzählungen der BewohnerInnen, die sich dem aufmerksamen Ohr offenbaren, sind so schillernd, wie das Mauerwerk der Plattenbausiedlungen grau ist.
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