Vor kurzem saß ich mit einer sehr belesenen älteren Dame im Kaffee und musste mich einmal wieder dafür rechtfertigen, warum ich keine Krimileserin bin. Ich überlegte kurz und sagte dann doch: ich lese nur Kriminalromane von Fred Vargas. Mit der Überzeugung, die Kriminalliteraturexpertin würde verständnisvoll nicken. Stattdessen schaute sie mich an, und signalisierte mir, dass ihr der Name Fred Vargas nichts sagte. Jetzt war es an mir, den Kopf zu schütteln. Später fiel mir ein, dass ich diese Situation schon häufiger erlebt hatte, dass ich erklären musste, wer diese Autorin mit dem männlichen Vornamen ist. Mehrere Stichworte rattere ich frei nach Buchhändlerinnenmanier dann immer herunter:
schreibt unter Pseudonym, hauptberuflich Archäologin – was ihre Texte besonders intelligent macht, aber, die eigentliche Genialität dieser Texte zeigt sich in den Dialogen der Ermittler/innencrew. Dialoge voller Charme, Sprachwitz, Skurrilität.
Da ist nicht nur Kommissar Adamsberg, der auf völlig unkonventionelle Art Fälle löst. Genauso wichtig für den Plot sind die ermittelnden Nebenfiguren; der alleinerziehende Vater Danglard zum Beispiel, der die seltsamsten Zeichen an Tatorten zu deuten versteht. Egal ob scheinbar gerade die Pest in Paris ausgebrochen ist (Vargas. Fliehe weit und schnell), oder ein auferstandener Robespierre sein Unwesen treibt. Er entziffert Hinweise, die ihn als historischen Kenner und weniger als Polizisten entlarven.
Wenn es einen körperlichen Sieg zu erringen gibt, wird Retancourt, die starke Frau der Crew, vorgeschickt. Sie mäht alles nieder, was für die Ermittler gefährlich werden könnte. Ihren eigenen, dickschädeligen Kopf behält sie dabei natürlich, ist keine Aufziehpuppe, die auf Befehl handelt. Vielleicht macht das die Figuren der Fred Vargas im besonderen aus:
sie reagieren nicht einfach nur auf Befehl, sondern handeln nach ihrem individuellen Gutdünken. Adamsberg ist nicht der unanfechtbare Chef, sondern muss sich die Gefolgschaft seiner Leute immer wieder neu erarbeiten. Was oft nicht einfach ist, weil er der intuitive, überhaupt nicht rationale Ermittler ist. So kann es beispielsweise Retancourt, die ihm sonst treu ergeben ist, nicht verstehen, warum er eine Reise nach Island unternehmen muss, um den Fall lösen zu können (aktueller Roman: Das barmherzige Fallbeil). Seine Rechtfertigung ist ein metaphorisches „Jucken“, das ihn in dieses Land treibt. Stereotype Geschlechterzuschreibungen werden hier mühelos über Bord geworfen; Adamsberg ist derjenige, der sich emotional von den Zeichen seines Körpers zu Ermittlungsschritten – im wahrsten Sinne des Wortes – bewegen lässt, und sich sogar der Gefahr aussetzt, seinen Chefposten zu verlieren. Retancourt würde im alltäglichen Wortgebrauch als „Mannsweib“ gelten, ein oft abwertend konotierter Begriff. Hier wird das „Mannsweib“ zur Rettung für den Kommissar. Ihre übermännliche Kraft, also fast schon übernatürliche Power, gepaart mit „weiblicher“ Intuition, führen dazu, dass die oft überlegt-unüberlegten Handlungen des Kommissars nicht in einer Katastrophe enden.
Die Kriminalromane von Fred Vargas sind etwas für Träumer, die surrealistische Handlungsmomente genießen können und gleichzeitig froh darüber sind, dass sie sich nicht zu einem Fantasyroman entwickeln. Sie sind spannend, ohne dafür auf Blutspritzereien zurückgreifen zu müssen, weil sie mit subtiler Psychologie Schauer über den Rücken jagen. Die Vorstellungskraft der Leser/innen sich selbst entwickeln darf, und nicht durch Bilder vorbelastet wird, die oft so manchen Filmabend zu einem hirnlosen, langweiligen Gemetzel werden lassen.
Um mit der legendären Hip-Hop-Gruppe „Blumentopf“ zu sprechen, machen eben gerade hier die „leisen Töne Melodien“. Die Töne, heißt, sprachlichen Andeutungen. Wie ein „Jucken“, das einen bei der Lektüre selbst erfasst, ohne dass man weiß, wo man sich nun genau kratzen soll, um erlöst zu werden. Helfen kann nur, den Plot weiter zu verfolgen; seine eigenen Mutmaßungen über potentielle Täter anzustellen und sich vor dem existenziellen Abgrund zu wappnen, der sich auftut, wenn die letzte Seite gelesen worden ist und das quälende Warten auf Nachschub beginnt.
Fred Vargas sagt über ihre eigenen Romane, dass es ihr dabei nicht um Gerechtigkeit gehe, sondern um Erkenntnis. Vielleicht erzeugt dieser Anspruch den Suchtfaktor ihrer Krimis; weil sie bewusstseinserweiternd wirken, indem sie sämtliche Stereotype unterwandern und zuletzt: überraschen.
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