Das Märchen vom angeborenen Mutterinstinkt gefiel schon den antiken Philosophen Platon und Hippokrates. Mit seiner Verbreitung hatten sie die Gewissheit, sich voll und ganz auf ihr eigenes Denken konzentrieren zu können und Frauen sich um Kinder und häusliches Wohl kümmern würden. Und wenn sich einmal ein weibliches Wesen seiner „Bestimmung“ widersetzte, dann galt es schlichtweg als krank oder „hysterisch“.
Den rettenden Samen spendeten die Herren in einer ruhigen Minute bereitwillig, um orientierungslose „Zombies“ im eigenen Haus aber vor allem in der Öffentlichkeit zu verhindern:
„Platon und Hippokrates etwa gingen davon aus, dass eine Gebärmutter bei fehlender regelmäßiger ‚Fütterung mit Samen‘ suchend im ‚Körper umherschweife und sich am Gehirn festbeiße‘, also schwere psychische Schäden verursache.“
Bis ins 20. Jahrhundert hinein empfahlen Ärzte deshalb, Hysterikerinnen zwangsweise zu verheiraten, um sie zu heilen.
Da wundert es niemanden mehr, dass es auch heute noch normal ist, kinderlose Frauen zwischen dreißig und vierzig auf ihre innere, scheinbar tickende Uhr aufmerksam zu machen. Wer diese Uhr nicht ticken hört, zweifelt an seinen Sinnen und gerät in einen Rechtfertigungszwang, der belastend ist.
Die Genderwissenschaftlerin Sarah Diehl hat mit ihrer Streitschrift „Die Uhr, die nicht tickt“ (Arche Verlag 2014) ein beeindruckend aussagekräftiges Buch geschrieben. Das liegt vor allem daran, dass sie anerkannte Theorien mit Stellungnahmen aus geführten Interviews verknüpft und mutig kommentiert.
Sie setzt dort an, wo meistens aufgehört wird nachzubohren, und erkennt dadurch ein wesentliches, kaum jemals diskutiertes Phänomen. Die Gründe, warum eine Frau keine Kinder bekommt, können unterschiedlich sein. Sie interessiert aber vor allem die Tatsache, dass es Frauen gibt, die den Wunsch nach einem Kind grundsätzlich nicht spüren. Sie sagt dazu, und zitiert einen Satz aus einem FAZ-Artikel von Eva Berendsen:
„Obwohl Frauen (zumindest theoretisch) heute frei zwischen verschiedenen Lebensmodellen wählen können, dominiert noch immer die Vorstellung, dass potentiell alle einen Kinderwunsch hegen. Eigentlich eine zutiefst private Entscheidung, wird Mutterschaft so zum öffentlichen Gut, und ‚der weibliche Lebensentwurf ohne Kinder bedarf auch im 21. Jahrhundert immer wieder einer Legitimierung‘.“
Immer noch wird Frauen dabei wohlwollend der fürsorgliche Part zugesprochen, geistige Arbeit fällt den Männern zu.
Diehl betont weiterführend, dass der Begriff der Fürsorge mit dem der Selbstaufgabe eine Gleichsetzung erfährt, und plädiert für ein Umdenken:
„Fürsorglichkeit ist eine wichtige Eigenschaft, die wir in einer Solidargemeinschaft brauchen. Aber diese Qualität ist geschlechtsunabhängig, wir alle sollten sie uns zu eigen machen. Vor allem sollte sie nicht auf Selbstaufgabe beruhen müssen.“
In Hinblick auf die Berufswahl ist Fürsorglichkeit für Männer eher unpopulär, weil man(n) schnell in schlechtbezahlte Jobs wie den der Altenpflege oder des Erzieherbereichs hineingeraten kann. Dann lieber gleich dem weiblichen Geschlecht immer wieder erzählen, dass sein Wesenskern aus weicher Weiblichkeit besteht und sich somit non chalant aus der Verantwortung stehlen.
„Die Uhr, die nicht tickt“ kämpft einen Kampf gegen essentialistische Stereotype, die so tief im Menschen (!) verankert sind, dass gefragt werden darf, wie Diehl dieses Buch hat schreiben können. Als Individuum in dieser Welt.
Wie kann die Autorin eine Struktur kritisieren, in der sie selbst von kleinauf feststeckt, die prägender Teil der eigenen Sozialisation ist?
Hier helfen ihr die selbstreflexiven Stimmen der interviewten Frauen einer Spur zu folgen, die das tickende Phantom „biologische Uhr“ vertreibt. Ohne zu wissen, wohin die Reise genau führt, lässt sich die Autorin ganz unterschiedliche Beweggründe, keine Kinder zu wollen, erzählen, und kommentiert die Aussagen mithilfe gesellschaftskritischer Studien anerkannter Wissenschaftler/innen von Elisabeth Badinter über Simone de Beauvoir zu Eva Illouz, Michel Foucault und Nina Pauer.
Gesellschaftlich motivierte Argumente spielen dabei immer wieder eine Rolle, wie die viel diskutierte „Doppelbelastung“ der Frau, die zwischen Job und Kinderbetreuung keinen Freiraum mehr für sich findet. Natürlich können gesellschaftliche Gründe Kinderlosigkeit provozieren, auch weil der Partner oft nicht so bei der Kinderaufzucht mitspielt, wie sich Frau das wünschen würde.
„Verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ so zitiert Diehl z.B. den renommierten Soziologen Ulrich Beck zum Verhältnis der Männer in Hinblick auf das Thema Emanzipation. „Die meisten würden das Streben ihrer Partnerinnen nach Gleichberechtigung akzeptieren, aber nur bis zu dem Grad, an dem ihr eigener privilegierter Entfaltungsspielraum nicht eingeschränkt ist“.
Für den Mann sind Kinder oft das gesellschaftlich anerkannte Sahnehäubchen zu gut bezahltem Job und Karriere. Fraglos. Aber das männliche Selbstverständnis in Beziehungen ist in dieser „Streitschrift“ weniger Thema. Vielmehr möchte Diehl, wie oben bereits angedeutet, dem Mythos „Mutterinstinkt“ an den schmutzigen Kragen und den Frauen das Selbstvertrauen geben, auf ihre Gefühle als individuelle Empfindungen zu hören.
Auch wenn sie scheinbar gängigen Evolutionstheorien entgegenstehen. Polemisch argumentiert Diehl:
„Wenn man die Evolution unbedingt herbeizitieren möchte und falls sie doch ein denkendes Geisterwesen mit einem Gewissen sein sollte, könnte man ja auch zu folgendem Schluss kommen: dass sie vielleicht erkannt hat, dass Überbevölkerung zur Zerstörung der Welt führen wird und es insofern besser sein könnte, ein paar mehr Frauen einzubauen, die nicht mehr brüten wollen.“
Denn eine Frau ohne Kind kann Kindern – in anderer Qualität – genauso viel geben, wie eine leibliche Mutter. Auch ohne dass sie ihre eigene, eingebaute „Maschine“ benutzt.
Grundsätzlich geht es dabei um die Frage, wie wir leben möchten. Ob wir der vom Staat propagierten, berechnenden Vater-Mutter-Kind Politik widersprechen und wagen, andere Lebensmodelle auszuprobieren. Diehl hat dazu auch lesbische Frauen mit und ohne Kinderwunsch interviewt, die besonders unter der diskriminierenden Gesetzgebung in der Familienpolitk leiden.
Andere Denkimpulse gibt uns ein Afrikanisches Sprichwort, in dem es heißt:
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“
– eine Einstellung, die nicht zuletzt kooperative, freundschaftliche Brücken zwischen Eltern und Kinderlosen schaffen würde, sondern vor allem den Kindern zugute käme.
Weil Frauen mit der Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, die zufriedeneren Mütter sind.
Oder eben die cooleren Tanten.
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