Wann beginnt eine Revolution? In Khaled Khalifas neuem Roman Der Tod ist ein mühseliges Geschäft, der in Syrien spielt, lange vor dem sogenannten „Arabischen Frühling“ 2011. Da begehrt zum Beispiel eine Einzelne, eine junge Frau in einem bei Aleppo gelegenen Dorf, gegenüber der Familie auf. Weil Laila nicht mit einem Mann verheiratet werden möchte, den sie nicht liebt, zündet sie sich an ihrem Hochzeitstag an, wird aus Protest gegen die Unterdrückung zur lebenden Fackel. Ihr Bruder hatte sie aus Feigheit nicht retten können und verlässt den Ort seiner Kindheit, um sich Jahre später, im Greisenalter, den Oppositionsstreitkräften im Kampf gegen die Regierung anzuschließen. Die revolutionäre Handlung einer einzelnen Person, ihr demonstrierter, drastischer und trotzdem ungehörter Ruf nach Freiheit, ist immer wieder Motiv des Textes, in dem es um die Reise dreier Geschwister geht, die den letzten Wunsch des verstorbenen Vaters einlösen möchten. Er soll zurückgebracht werden an den Ort, den er einst verlassen hat, um im Grab seiner Schwester beerdigt zu werden. In einer Zeit, in der an jeder Straßenecke Checkpoints platziert sind, die oft völlig willkürlich Reisende festnehmen, foltern und töten, ist das ein fast unmögliches Unterfangen.
Die Geschwister Bulbul, Hussain und Fatima machen sich dennoch auf den Weg nach Anabîja, einem Ort, der im Jahr 2015 in der Hand der Opposition ist und die den Vater mit Ehren empfangen würden. Der Weg dorthin entwickelt sich jedoch zu einem grauenvollen, völlig absurden Trip.
„Welche Bedeutung hatte der Leichnam seines Vaters?“, fragt sich Bulbul bald nach dem Aufbruch, nachdem der Verstorbene an einem von Islamisten eingerichteten Checkpoint verhaftet wird. Die Bedeutung von Leben und Tod in einem Land, in dem der Tod überall auf der Straße sichtbar, allgegenwärtig ist, stellt sich immer wieder. Nur schleichend kommen die Geschwister voran und alle drei hängen ihren Erinnerungen nach. Ähnlich verfahren wie der Krieg in Syrien, sind die familiären Beziehungen untereinander. Zusammen auf gefährlicher Mission, gäbe es die Möglichkeit einer Aussprache, einer „Befriedung“, zumindest im familiären Bereich. Aber die Kommunikation untereinander ist genauso ein „mühseliges Geschäft“ wie der Transport des Leichnams durch ein Kriegsgebiet. Dabei haben die Geschwister eine eigene Geschichte, die manchmal nur angerissen, gerade beim Vater aber auch ausführlich erzählt wird. Es sind verlorene Lieben, ungelebte Liebesleben, die darin eine Rolle spielen und die von den sonst bedrückenden Schilderungen der Reise ablenken. Sie geben Einblick in ein verlorenes Reich ihrer Wünsche, denn:
„Ein langer Krieg trägt seine eigenen Winde mit sich, die über alles wehen und nichts belassen, wie es war. Er verändert die Seelen, die Gedanken, die Träume, er testet die Leidensfähigkeit.“
Dem Roman fehlt bis auf wenige Ausnahmen; eine ist oben zitiert, die Poesie. Vielleicht weil es für das absolute Grauen keine poetischen Bilder gibt, dem Autor es nicht möglich ist, einen Abstand zum Geschehen herzustellen, der diese erlösende Wirkung beim Lesen erzeugen könnte. So sind manche Schilderungen, gerade die des immer stärker verwesenden Leichnams im Auto, schwer zu ertragen. Der existenzielle Ekel, der durch die ständige Wiederholung der abstoßenden Schilderung entsteht, verfolgt aber ein Ziel: Die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins im Krieg körperlich nachvollziehbar zu machen. Zunächst stöhnt man innerlich auf, weil man nicht versteht, warum der Verwesungszustand des toten Vaters in allen Stadien beschrieben werden muss. Nach und nach erreicht das Erzählverfahren aber eine Wirkung, die nur noch in der Theorie an Jean-Paul Sartres Ekel erinnert. Während bei Sartre die nackte, bloße Existenz harmlos ekelig, weil lebendig in ihrer pulsierenden Fülle erscheint, bleibt beim Bild des von den Maden zerfressenen Vaters nicht einmal die Illusion von der Rettung vor dem Nichts. An dem was da als (noch) materieller Haufen beschrieben wird, ist absolut nichts mehr, was an ein Lebewesen erinnert.
Die Protagonisten brechen die Horrorfahrt dennoch nicht ab, vielleicht um sich selbst und den Offizieren an den Checkpoints beweisen zu können, dass „Leben und Tod“ eben nicht nur „ein Packen offizieller Dokumente“ sind.
Wer „klassische“ arabische Autorinnen und Autoren wie Assia Djebar, Nagib Machfus oder Tahar Ben Jelloun kennt und aufgrund ihrer schillernden Metaphern liebt, der wird von Khalifas Roman enttäuscht sein. Khalifa beschreibt keine Sehnsuchtsorte, in denen Kindheitserinnerungen die Schrecken des Krieges relativieren könnten. Abbas Khider, deutscher Autor mit irakischen Wurzeln, kennt wie Khalifa eine Existenz im permanenten Ausnahmezustand und hat in seinem letzten Roman, Ohrfeige, das Leben in deutschen Flüchtlingsheimen beschrieben. Auch er macht das ziemlich real, erzählt plastisch und anschaulich von bitteren Erfahrungen. Khider nutzt dabei den Humor als Strategie, um menschenunwürdige Zustände für die LeserInnen leichter verdaubar zu machen.
Witze macht man oft über etwas, das (individuell) überstanden ist, über etwas, zu dem man einen Abstand entwickeln konnte. Der Krieg in Syrien dauert an, der Autor lebt weiterhin mittendrin. Ein Grund, warum es beim Lesen zwar keine Befreihungslacher geben kann, aber dafür einen viel tiefer gehenden Erkenntnisgewinn.
Neue Kommentare