Autor Archiv:Riccarda Gleichauf

Sprachgymnastinnen ohne Balance. Shumona Sinha. Erschlagt die Armen.

Shumona Shina. Erschlagt die Armen!

Shumona Sinha. Erschlagt die Armen!

In ihrem 2015 bei der Edition Nautilus erschienen Skandalroman „Erschlagt die Armen!“, erhalten die LeserInnen Einblick in ein abgeschlossenes System; das der Migrationsbehörde Paris. Dort wird hinter verschlossenen Türen darüber entschieden, wer einen Asylstatus erhält, und wer nicht. Die Protagonistin, eine Dolmetscherin, ist diejenige von der erwartet wird, dass sie die Leidensgeschichten der Flüchtlinge verständlich für den sogenannten „Entscheider“ übersetzt. Zusätzlich zur Übersetzungsarbeit soll sie diesen „fremden Männern“, die alle Hilfe von ihr fordern, Empathie und Verständnis entgegenbringen.

Zunächst irritiert der fast menschenverachtende Ton, die unbarmherzige Weise, auf die die Erzählerin von den „ungeliebten Quallen“ berichtet, die „sich an fremde Ufer geworfen haben“. Zumal diese Sätze von einer Person stammen, die selber vor einigen Jahren in Frankreich „gestrandet“ ist, und sich eigentlich solidarisch verhalten müsste. Doch sie hat die immergleichen Erzählungen der Hilfesuchenden, fast ausschließlich männlichen „Quallen“, satt, weil sie ihr Lügengeschichten unterbreiten, die sich inhaltlich kaum voneinander unterscheiden. Ihr werden auswendiggelernte, fiktionale Lebensgeschichten erzählt, weil das „System Behörde“ nur denjenigen eine Chance auf Bleiberecht gewährt, die ihre Erfahrungen wie Schauspieler an ein Publikum verkaufen können.

Drei unterschiedliche „Sprachen“ treffen jeden Tag in den unwirtlichen Büroräumen aufeinander, und Aufgabe der Dolmetscherin ist es, von einer Sprache zur anderen zu springen, und sich von ihr „benutzen“ zu lassen, das Werkzeug dafür zu sein, dass die Unwahrheiten gehört werden können:

Der Entscheider sprach seine Sprache, die Sprache der verglasten Büros. Der Antragsteller sprach seine flehende Sprache, die Illegalen-Sprache, die Ghetto-Sprache. Und ich nahm seine Sätze, übersetzte und servierte sie heiß. Die Fremdsprache schmolz in meinem Mund, hinterließ ihr Aroma. Die Wörter meiner Muttersprache lagen mir beim Sprechen sperrig im Mund, lähmten meine Zunge, hallten in meinem Kopf nach, hämmerten in meinem Hirn wie falsche Töne eines verstimmten Klaviers. Sie waren eine klägliche, schwankende Hängebrücke zwischen den Antragstellern und mir.“

Das Verhältnis der Protagonistin zu ihrer Muttersprache ist kein gutes. Die Sprache ihrer Geburt fühlt sich falsch an, und hindert sie fast daran, überhaupt Worte von sich geben zu können. Die Fremdsprache wiederum, also das Französische, entwickelt sich interessanterweise zu einem individuellen Geschmack, den sie nicht wieder verlieren möchte. Es ist der Geschmack, der sie nach Paris gelockt hat, und mit dem sie auch von ihren Mitmenschen in Verbindung gebracht werden möchte.

Durch ihre ambivalente Zwischenposition in der Behörde spitzt sich die Sprachenkrise zu und wird zu einer Identitätskrise. Eines Tages schlägt die Ich-Erzählerin einem Migranten in der U-Bahn eine Weinflasche über den Kopf, weil er sie verbal provoziert hat. Plötzlich ist sie selber das rätselhafte Tier in der Zirkusmanege, muss Auskunft über etwas geben, das sich mit Worten nicht wirklich beschreiben lässt. Protokollhaft versucht ein Ermittler im Gespräch mit der Protagonistin zu rekonstruieren, wie es zu dem Gewaltausbruch kommen konnte. Wie Mosaikteile reihen sich mögliche Gründe für den Gewaltausbruch im Verlauf der Geschichte aneinander. Und es ist nicht nur die Sprachenzerrissenheit, das Wandeln zwischen den Sprachkulturen, die sie zu der drastischen Maßnahme greifen lässt. Es ist gerade auch er unterschwellige Hass der geflüchteten Männer, dem die Dolmetscherin als Frau verstärkt ausgesetzt ist, der ihr Inneres mit der Zeit in eine wütende Chaoslandschaft verwandelt:

Und dann erdreistete sich diese Frau, sie, die Männer, auszufragen. In der guten alten Zeit, vor diesen unvorhergesehenen Ereignissen auf den Meeren und in den Büros, als Männer noch Reis anbauten und Gewürze verkauften, ohne bei der Heimkehr tausend Papiere vorzeigen zu müssen, hätten sie einer Frau, die mit erhobenem Kopf und lauter Stimme mit ihnen redete, die in ihren Geheimnissen herumschnüffelte und sie angeblich falscher, widersprüchlicher Aussagen überführte, eine Ohrfeige verpasst.“

Die Erzählerin fühlt sich verfolgt von den Worten, die aus den Mündern der Bittsteller strömen, wird nachts von ihnen eingeholt. So stürzt die Sprachgymnastin vom Trapez, weil ihr das Gleichgewicht nach und nach abhanden kommt. Das Gleichgewicht, das überlebensnotwenig ist, um zwischen den Sprachwelten zu balancieren.

Subtil aber gut erkennbar schwelt im Roman Kritik am „System Europa“, in denen die Flüchtlinge als „Sklaven des neuen Jahrtausends“ mißbraucht werden, das Resultat einer Politik, mit dem die Festung Europa, ein „Europa auf Morphium“, ihre Inhumanität immer wieder aufs neue bestätigt. Denn Schuld an den unhaltbaren Zuständen auf der Behörde sind nicht die Flüchtlinge. Allerdings zeigt die Autorin an keiner Stelle des Romans mit moralisierendem Zeigefinger auf all die menschlichen Tragödien und Ungerechtigkeiten. Vielmehr eröffnet sich ein wütender Textteppich, auf dem sich Lüge und Wahrheit ein Gefecht liefern, das gerade auch durch die eindrückliche Sprache, die ungewöhnlichen Metaphern, eine literarische Kraft besitzt, die verstört.

Auch wenn die Protagonistin an ihrer bilingualen Sprachenexistenz zu verzweifeln droht, weil sie die Muttersprache gerne abstreifen würde wie ein lästig gewordenes Kleidungsstück – auf poetologischer Ebene entstehen neue, ungewohnte Bilder, die durch eine permanente gedankliche Übersetzungsarbeit im Kopf gebildet werden, und eine besondere, originelle Qualität haben.

Die algerisch-französische Autorin und Trägerin des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Assia Djebar, hat zu ihrem Verhältnis, zu ihrer Zwei-Sprachen-Existenz, die ihr Leben formte, einmal gesagt, dass das Arabische, also die Muttersprache, den emotionalen Part in ihrem Leben übernommen habe. Die Sprache der Unterdrücker, das Französische, sei ihre Schriftsprache gewesen.

Vielleicht ging es Shumona Sinha beim Schreiben ähnlich. Möglicherweise hat ihr die Muttersprache die nötige wütende Phantasie für diesen Text gegeben, in denen Richter und ihre Beisitzer bei der Anhörung eines Migranten als „so sensibel wie Nashörner“ beschrieben werden können. Das Französische wird dabei zum Schreibwerkzeug, zu der Sprache, die die Worte aufs Papier bringen und sie nicht weiter unruhig im Körper umherschwirren lassen.

Das Verhörprotokoll endet mit dem nur scheinbar versöhnlich klingenden Satz:

Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“.

Bleibt die Frage, wo das für eine Weltenwandlerin, wie die Erzählerin eine ist, genau sein soll. Im Dazwischen der Sprachen, im permanenten Transit oder eben gerade in der Unverortbarkeit der eigenen (sprachlichen) Existenz?

Emanzipiert einsam. Friederike Gösweiner. Traurige Freiheit.

Friederike Gösweiner. Traurige Freiheit.

Friederike Gösweiner. Traurige Freiheit.

Traurige Freiheit von Friederike Gösweiner (Droschl Verlag) hat soeben den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Shortlist Debüt bekommen. Es ist ein wichtiger Text, weil er ein Thema anspricht, das viel zu wenig im öffentlichen Diskurs wahrgenommen wird. Er geht um die Kinder der 80er, die „Generation Praktikum“, die doch eigentlich alles hat, die sich nun wirklich nicht beklagen kann.

Vordergründig ist es vielleicht so, dass auch AkademikerInnen über kurz oder lang eine gutbezahlte Arbeit finden, wenn sie sich nur richtig anstrengen. Dabei ist Vorsicht geboten. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sinken laut Statistiken zwar fleißig, aber sie sprechen nicht davon, welche Jobs arbeitslose JournalistInnen zum Beispiel irgendwann aus der Not heraus annehmen. Hannah aus Traurige Freiheit, kurz vor dem vollendeten 30. Lebensjahr, sucht sich den für Frauen typischen Notnagelberuf aus. Sie wird Kellnerin in einem Kaffee. In die Stadt Berlin ist sie gezogen, weil ihr freiheitsverheißender Ruf, aber vor allem ein Volontariat bei einer Zeitung sie dorthin lockt. Sie muss sich dafür von ihrer großen Liebe, einem Arzt, trennen, weil dieser weniger emanzipiert ist als sie selbst. Jakob versteht nicht, warum seine Freundin sich nicht von ihm aushalten lassen will, sondern ihren eigenen beruflichen Weg gehen möchte.

Die permanente Erinnerung an den Exfreund macht die Freiheit zu einer traurigen Freiheit, oder vielmehr zu einer traurigen Einsamkeit. Mit Freiheit hat dieser Zustand nichts mehr zu tun. Es geht um die Einsamkeit als abgrundtiefe, bodenlose Emotion.

Dabei könnte sie auch kreative Kräfte wecken, oder wenigstens produktive Wut. Stattdessen versinkt die Protagonistin nach Beendigung des Volontariats und keinen Jobaussichten in Hoffnungslosigkeit und rationalisiert diesen Zustand um ihn damit gleichzeitig zu bagatellisieren – ein typisches Verhalten für AkademikerInnen:

„Vielleicht fühlten alle diese Aussichtslosigkeit, die sie fühlte. Vielleicht war dieses Gefühl normal. Vielleicht war das einfach das Erwachsenenleben, immer schon gewesen, und sie waren nur in keiner Weise darauf vorbereitet worden.“

Auf eine Sache wird man als Geisteswissenschaftlerin im Studium auf jeden Fall nicht vorbereitet. Auf die Tatsache, dass da draußen niemand exklusiv auf dich wartet, du nur Bewerbungen schreiben musst, und schon nehmen sie dich mit offenen Armen. Man muss schon laut werden, Aufmerksamkeit erregen, Vitamin B haben oder zumindest einen Shitstorm im Netz provozieren um sichtbar zu werden. Auch das erkennt Hannah irgendwann, als sie von einem öffentlich bekannten Journalisten im Kaffee angesprochen wird. Ihr ist es wichtig, diesem interessanten älteren Mann direkt zu zeigen, dass sie keine Kellnerin ist, sondern sich nur hinter diesem Beruf versteckt, sich an ihn klammert, weil ihr sonst keine Chance gegeben wird, sich zu zeigen:

„Ich habe Zeitgeschichte studiert, sagte Hannah, während sie an der Bar hantierte, und wunderte sich über sich selbst, dass sie es nötig fand, dem Mann sofort klarzumachen, dass sie nicht nur Kellnerin war, sondern Akademikerin.“

Der weitere Verlauf der Geschichte ist klar vorgezeichnet, weil ein Klischee bedient wird, in dem leider viel wahres steckt. Sie will den fremden, mächtigen Journalisten, Herrn Stein, inhaltlich von sich überzeugen –  er sucht eigentlich nur das eine. Vielleicht möchte er auch mehr, genießt ihre unterhaltsame und kluge Gesellschaft als Sahnehäubchen obendrauf. Letzlich kommt Hannah zusammen im Gespräch mit ihrer einzigen Freundin Miriam aber zu dem Schluss, dass „er sich für sie interessierte, als Frau, nicht oder zumindest nicht nur als Kollegin.“

Was sie bisher von Herrn Stein gehalten hat ist blauäugig gewesen und typisch für ihren Charakter, ihre Art, positiv über die Welt zu denken. Immer viel zu viel zu erhoffen, und letzlich passiv in eine Warteposition zu verfallen, die sie in eine abhängige Situation, vergleichbar mit der einer Gewächshauspflanze, bringt. Als bedürftiges „Pflänzchen“ braucht Hannah jemanden, der sie regelmäßig mit Wasser und Licht versorgt. Bleibt das aus, dann wird der Boden spröde, die Luft knapp und die Blätter welken.

Als Herr Stein zu seiner Familie in die Sommerferien fährt, beginnt für Hannah endgültig der Boden zu schwanken, weil ihr einziger energiegeladener Halt in der Großstadt sich als Luftschloss, als ein unwirkliches Gebilde noch nicht erwachsengewordener, schambehafteter Kleinmädchenträume entpuppt. Aufwachen, möchte man der Protagonistin zurufen, und sie heftig an den Schultern packen. Der ungebremste Fall in die Tiefe ist aber vorprogrammiert, und es ist eine Schwachstelle des Textes, dass gerade die surrealen Szenen weiterhin linear erzählt werden. Ein Bruch mit der Form hätte eine Vielstimmigkeit erzeugt, den gehäuften inhaltlichen Klischees (Berlin=Freiheit, Frau=Kellnerin, mächtiger Mann= mögliches Karrieresprungbrett) eine Tiefendimension verliehen, und die bekannten Motive damit semantisch infrage gestellt. Die Protagonistin wäre interessanter, weil charakterlich vielschichtiger geworden. Aber das ist Geschmacksache, und linear verlaufende Texte sind, man denke an Bodo Kirchhof der den Deutschen Buchpreis dieses Jahr gewonnen hat, in Mode, und ja auch irgendwie angenehm, weil gut verständlich.

Das 30ste Jahr. Unweigerlich muss man an die gleichnamige Erzählung von Ingeborg Bachmann denken, an dieses verflixte Jahr, und an die Stimme am Ende, die sagt: „Steh auf und geh, es ist dir kein Knochen gebrochen“. Bei Friederike Gösweiners Protagonistin kommt sie von innen heraus und drängt darauf, sich wieder in Bewegung zu setzen:

„Zeit zu gehen, dachte Hannah“.

Es ist eigentlich spannend nicht zu wissen, wohin.

Ein erzähltes Stück Leben. Christine Lavant. Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.

Lavant. Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.

Christine Lavant. Aufzeichungen aus dem Irrenhaus.

Wer schreibt, und das Geschriebene der Öffentlichkeit zeigt, setzt sich bewusst der Meinung des Publikums aus. Das mag der Autorin, dem Autoren, die nötige Anerkennung und den Mut geben, sich an weitere Texte zu setzen, sich weiter wie eine Spinne im eigenen Gewebe verlieren zu wollen, um für andere sichtbar zu werden. Die österreichische Autorin Christine Lavant ist in einer Zeit groß geworden, in der Frauen noch viel stärker als heute gesellschaftlichen Normen unterworfen waren. 1915 im Lavanttal (Kärnten) als Tochter eines Bergmanns geboren, kostete es sie viel Selbstüberwindung, ihr Pseudonym eines Tages hinter sich zu lassen, und ihre Texte als ihr „erzähltes Stück Leben“ vorzustellen. Als Frau geboren, stammt sie zusätzlich aus einem proletarischen Elternhaus. Schlechtere Voraussetzungen um mit den eigenen Schriften Fuß zu fassen, gab es fast nicht. Dazu irritierte die Autorin ihre Kritiker – die ausschließlich männlich waren – (Kritikerinnen gab es auch in den 50-er Jahren kaum), ihr autobiographischer Schreibansatz, der einen anderen, ungewohnten Blick auf gesellschaftliche Phänomene warf, als ihn die akademische Elite kannte und propagierte. Die Schriftstellerin Christa Wolf hat in ihren Werken, zum Beispiel in Kassandra, immer auch nach einer „weiblichen“ Art des Schreibens gefragt – sie hat sich auf die Suche begeben nach den unterdrückten Frauenstimmen der Jahrhunderte, die uns möglichweise von einem anderen, vielleicht besseren Leben erzählen. Lavant stellte das Schreiben von Prosa leider nach vernichtenden Kritiken ein, schrieb nur noch Gedichte, weil sie es nicht ertrug, missverstanden zu werden. Jetzt könnte man sagen, warum hat sie sich nicht ein dickeres Fell zugelegt, was ihr passiert ist, damit mussten und müssen sich männliche Schriftstellerkollegen auch immer wieder auseinandersetzen. That’s business.

Nehmen wir nun als Beispiel Heinrich von Kleist. Kleist wurde u.a. vom weniger modern denkenden Goethe drangsaliert, seine Penthesileia war für den anerkannten Dichter ein „no go“. Sicher ein Problem. Allerdings kritisiert hier ein Mann einen Mann –  vielleicht war Kleist auch zu sehr „Frau“ um von einem „männlichen“ Goethe verstanden zu werden – … Worauf ich mit meinem Exkurs aber hinausmöchte ist die Tatsache, dass Lavant als schreibende Frau ausschließlich von männlich-patriarchalen Strukturen kritisiert wurde, weil es gar keine anderen Strukturen gab.

Bezeichnenderweise sollte der nun vorgestellte Text zu Lebzeiten der Autorin dann auch nicht gedruckt werden, weil der Verleger einen „frommen Schluss“ verlangte. Jahre später wurden die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus zum Glück wiederentdeckt und 2001 zum ersten Mal veröffentlicht. Lavant sieht und kommentiert Dinge auf ihre Weise und gewährt den Lesern einen Einblick in ein sonst abgeschlossenes System; das der Psychiatrie. Ihr gelingt es im Schreiben sowohl innerhalb als auch außerhalb der „Landes-Irrenanstalt“ zu stehen, weil sie über das, was sie sieht, reflektiert, und somit fast automatisch poetisch autofiktionalisiert. Sie nimmt eine Doppelrolle ein, ist einerseits die suizidale, um den eigenen Zustand kreisende Patientin, um andererseits ihre Umwelt schonungslos ins Visier zu nehmen. Sie lebt ihr „Innen“ intensiv, um gleichzeitig einen wachen Zugang zum „Außen“ zu bewahren:

„Eben hat Berta getanzt. Seltsam, dass es keiner der Schwestern, auch dem Nusserl nicht, einfiel mich diesmal wegzuschicken. Scheinbar tanzt sie selten, denn der ganze Saal nahm daran teil, sogar Schwester Minna hörte für einige Augenblicke auf, an ihrem Babyjäckchen zu stricken und lachte mit ihren runden schwarzen Augen überaus gutmütig und fast wohlgefällig vor sich hin.“

Hier ist sie reine Beobachterin einer der wenigen fast glücklichen Momente der Insassen. Ihr gelingt es durch genauen Blick und feiner Empathie, die Szene so erscheinen zu lassen, als sei sie alltäglich, als hätten die „psychisch Kranken“ Zugang zum normalen Leben der Bürger außerhalb ihres unfreiwillig gewählten Lebensumstands. Sekunden später kippt das Bild, zeigt das, was wirklich in den Räumen passiert. Beleuchtet die Dramen, die sich tagtäglich abspielen. Da wird unter unwürdigen Bedingungen einsam gestorben, werden aufmüpfige Frauen von masochistischen Betreuern lustvoll in Zwangsjacken gesteckt:

„Die Magere, die im zweiten Bett rechts von mir lag und ihre Zeit damit hinbrachte zu schreien oder nach den Spritzen wie eine Tote zu schlafen, ist am Morgen sterbend in den kleinen Raum vor den Klosetten gebracht worden, wo sie auf der niederen Bahre endlich allein starb.“

Die Erzählerin prangert die unmenschlichen Bedingungen an, unter denen die Anstaltsinsassen zu leiden haben und geht gleichzeitig mit sich selbst hart ins Gericht. So schämt sie sich ihrer Hoffnung, doch das Bett der „wie ein Stück Vieh“ Verstorbenen, zu bekommen.

Wer ständig in einem Klima des Hasses und der Angst lebt, resümiert sie, wird schnell ein Teil dieser asozialen Gruppe – nur um zu überleben.

Als sie Zeugin der sexuellen Belästigung einer Patientin durch Pfleger wird, zweifelt sie auch an der Existenz eines helfenden Gottes, oder sonst einer Lichtgestalt:

„Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem davon die Aufgabe, Dinge die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürften, hier auf Erden zu verhindern.“

Wie eine Prophezeiung liest sich diese Notiz in Hinblick auf die wenige Jahre später folgenden Euthanasiemorde. Im Nachwort der von Klaus Amann differenziert kommentierten Ausgabe aus dem Wallstein Verlag (2016), betont der Literaturwissenschaftler, dass gegen 15 Personen aus der Abteilung die den Schauplatz der Erzählung Lavants bildeten, 1946 Anklage erhoben wurde.

Vielleicht ist die Autorin nur knapp der Vernichtungsmaschinerie entkommen, möglicherweise, weil sie dem Oberarzt eine schlüssige, (erfundene) Erklärung für ihren Selbstmordversuch liefert.

Geschickt wählt sie den gesellschaftlich anerkanntesten Grund für ihr „irrationales“ Handeln, ein Klischee, das für sämtliche Frauenleiden herhalten muss, weil es schlüssig erscheint; dem Bild eines weichen, schutzbedürftigen Geschöpfs am besten entspricht. Es war:

Selbstmord aus unerfüllter Liebe.

Ohne nachvollziehbarem Grund wäre ihre Krankheit zu einem Mysterium geworden, und hätte nicht geheilt werden können –  die Arsenkur, spezialisiert auf gebrochene Herzen – hätte ihre Wirkung verfehlt. Lavant wird nach ein paar Wochen entlassen und ist um eine Erfahrung reicher, die ihr die Erkenntnis gibt:

„Nicht das Leben ist ja wichtig, nur das Erlebnis“.

Schauerliche Erlebnisse reihen sich in den Aufzeichnungen an kurze Glücksmomente, die alle zusammen von Lavant in Dichtung gefasst werden, weil sie sich von den spottenden Stimmen nicht bremsen lässt, die ihr suggerieren, dass eine Bergarbeiterstochter lieber die Finger von der hohen Schreibkunst lassen sollte:

„Sie will ja nur dichten, sagte da die spitze Stimme vom Fenster her. Alle lachten, warum hätte ich nicht auch lachen sollen?…Ja meine Teure sagte da der Kleine, diese Gewohnheiten wirst du dir freilich abgewöhnen müssen. Düchten mit Umlaut ü, gelt, wahrscheinlich kann sie nicht einmal ordentlich rechtschreiben, aber dichten will sie! Sehen Sie, Kollege, solche Geschichten kommen heraus, wenn jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprösslinge in Hauptschulen und so schicken zu müssen. Also mein Kind, das Düchten überlass du schön anderen Leuten…“

Zum Glück ist C. Lavant dem bösen, altväterlichen Rat des Herrn Primarius nicht gefolgt, und der Text fand seinen Weg in die richtigen Hände, um ihn letztlich doch noch zu einer Leserschaft sprechen zu lassen.

Worin auch immer „weibliches“ Schreiben besteht, sicher ist jedenfalls, dass Lavants Stimme den altbekannten und anerkannten Literaturkanon aufmischt, gerade weil ihr Zugang zu den Erfahrungen in der Welt „anders“, oder sagen wir, besonders, ist. Vielleicht hätte mir Christa Wolf zugestimmt.

 

Die Großstadt ist ein einsames Monster. Kate Tempest. Worauf du dich verlassen kannst.

Kate Tempst. Worauf du dich verlassen kannst.

Kate Tempest. Worauf du dich verlassen kannst.

Kate Tempest ist momentan zurecht eine der gefeierten Rapperinnen und Spoken Word Artistinnen Englands. Jetzt gibt sie in ihrem Romandebüt „Worauf du dich verlassen kannst“, den Stimmen einen Raum, denen bisher auf der Bühne zu wenig Platz eingeräumt werden konnte.

Im Fokus stehen die „kids“ der Wirtschaftskrise, die gewohnt sind, mehrere Jobs parallel zu haben; für die es normal ist, wie Eichhörnchen den „Nüssen“ tagtäglich hinterherzuhüpfen. Die Kraft dafür holen sie sich aus dem Selbstverständnis, dass sie für ihren Traum malochen. Für den Traum vom eigenen Leben. Von diesem zukünftigen, authentischen Leben sind sie fast alle überzeugt, wenn die erbarmungslos-schöne Stadt, konkret hier London, sie nicht vorher verschlingt. Denn ohne Drogen und Alkohol sind die Fratzen des Alltags schwer zu ertragen:

„Sie (kids) existieren in der Masse und fühlen sich als Teil des Ganzen. Sie mißtrauen allem außer Trends. Ihre Hoffnung besteht darin, abends rauszugehen und sich abzuschießen, die Gesichter entstellt von Alkohol und Drogen, die sich am Morgen grausam rächen (…). Sieh, durch feuchte Augen und blutige Finger, wie die Stadt zugrunde geht und wiederaufersteht.“

Da ist zum Beispiel die talentierte und gutaussehende Becky, die eigentlich eine Ausbildung zur Tänzerin abgeschlossen hat und in einem festen Tanzensemble arbeiten möchte. Da sie aber nur ab und zu für alberne Hintergrundtanzereien auf Musikvideos gebucht wird, kann sie sich finanziell nicht über Wasser halten. Deswegen jobbt sie in einem Kaffee und arbeitet zusätzlich zweimal die Woche als „Masseuse“.

Auf einer Party trifft sie die androgyne Harry, und fühlt sich direkt von ihr angezogen. Die zunächst wortlose Verbundenheit erzeugt ein Vertrauen, durch das sich die beiden, ohne zu wissen warum, ihre intimsten Vorstellungen von einem echten Leben erzählen. Vielleicht liegt es auch an der Mischung aus Koks und Alkohol, die ihre Redseligkeit fördert.

Es sind die verzweifelt-kompromisslosen, glasklar geschliffenen Sätze, die „Worauf du dich verlassen kannst“ zu einem Roman machen, den man nicht mehr einfach so abschüttelt :

„Alle sind auf der Suche nach ihrem persönlichen Quäntchen Sinn. Nach irgendeiner flüchtigen Vollkommenheit, die ihnen das Gefühl geben könnte, lebendig zu sein.“

Es ist nicht nur die Story, die sich mehr und mehr aufbaut und sich zu einer nahenden Katastrophe verdichtet, die beim Lesen fesselt. Vielmehr verfolgen einen die unverstellten Schilderungen der Stadt London als lebendig-pulsierendes Monster. Sie ist ein unruhiges, schlafloses Tier, das auch liebenswerte Seiten hat und dem man deswegen nicht einfach den Rücken zukehren kann, auch wenn es psychisch und physisch zerstörerisch wirkt. Der Satz „Menschen töten wieder für Götter. Uns tötet das Geld“, zeigt den roten Faden der Handlung auf  –  ein Text, den man phasenweise laut vor sich hinrappen möchte, damit er einen noch stärker in Trance versetzt.

Eine der weiteren Hauptfiguren ist die bereits erwähnte Harry. Sie verkauft Kokain an reiche Geschäftsleute, indem sie als extra gebuchter „Gast“ auf deren Feiern auftaucht. Ein eigentlich perfektes Geschäftsmodell, dessen riskantes Gesicht sie ausblendet, weil sie sich irgendwann in naher Zukunft für die Einnahmen einen Ort erschaffen möchte, an dem sich Menschen versammeln können, um sich zuhause zu fühlen, denn:

„Wir sind einsam. Wir sind alle so einsam in dieser Stadt. Wir brauchen Orte, wo wir hingehen können. Glaub ich.“

Becky und Harry – so unterschiedlich ihre Charaktere auch sind – vereint eine innere Stärke, die mit Blick auf ihre, in Rückblenden erzählte Vergangenheit, erstaunlich ist. Was nicht tötet, hat die zwei jungen Frauen abgehärtet, ohne sie gleichzeitig verbittern zu lassen. In ihren vielen (Schein-)leben, die ihnen der Kapitalismus zumutet, versuchen sie herauszufinden, wie sie wirklich sein wollen:

„Als hättest du zwei Leben. Aber welches ist das echte? Welches ist das, das du tatsächlich lebst?“

Zu dieser nicht leicht zu klärenden Frage tritt noch eine andere irritierende Beobachtung der Dealerin Harry hinzu. Sie wundert sich darüber, dass ja „angeblich Wirtschaftskrise“ sei, und sie aber noch nie „so viel Stoff vertickt“ habe. Irgendetwas läuft schief im Königreich, irgendjemand muss das Geld horten. Bei der jungen Londoner Generation ist es jedenfalls nicht.

Pete, die einzige männliche Hauptfigur, ist derjenige, der keine Träume mehr hat. Er existiert mehr schlecht als recht vom Jobcenter und antwortet auf den Vorwurf seiner Halbschwester Harry, dass er sich zu schade sei zu arbeiten, erschöpft:

„Ich halte es nicht für unter meiner Würde, ich kann nur einfach nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr für Mindestlohn und auf Abruf arbeiten. Ich arbeite zu jeder Tages- und Nachtzeit und kann trotzdem meine Miete nicht bezahlen und keinen Penny zurücklegen. Ich will einen Beruf wie jeder andere auch.“

Pete hat schon alle möglichen Jobs angenommen, nur um „Arbeit“ zu haben. Dabei besitzt er ein abgeschlossenes Studium, ist diplomierter Politologe.

Auch die Liebe wird von dem Einfluss der Wirtschaftskrise überschattet. Leider trägt Kate Tempest in einzelnen Passagen thematisch dazu etwas dick auf. Gleichzeitig hat es aber natürlich eine eigene Komik, die subversiv à la Judith Butler Geschlechterstereotype kritisiert, wenn man einer Frau Aussagen in den Mund legt, die normalerweise oft von Männern benutzt werden. Die permanente Reduzierung Beckys auf ihre körperlichen Qualitäten durch die verliebte Harry, wäre so ein Beispiel. Dort heißt es:

„Beckys Schönheit ist wie Durst in ihrem Mund.“

Tempest hat ihre Sprache in der Rapperszene entwickelt, die gerne kitschige, klischeebeladene Bilder bedient und in „Worauf du dich verlassen kannst“ den Leser in der ein- oder anderen Beschreibung vielleicht genervt die Augenbrauen hochziehen lässt. Wirklich störend bei der Lektüre ist aber das mangelhafte Lektorat der deutschen Übersetzung. Nicht selten fehlen ganze Worte, Satzzeichen und Buchstaben. Ein Freestyletext, vorgetragen auf der Bühne, interessiert sich nicht unbedingt für Grammatik und es fällt nicht weiter auf, wenn Buchstaben im Eifer des Sprachgefechts verschluckt werden. Bei verschriftlichter Literatur, die eine sorgfältige Behandlung verdient, tut es aber besonders weh wenn der poetische Lesefluss permanent unterbrochen wird.

„Worauf du dich verlassen kannst“ ist ein Großstadtroman und erinnert an Alfred Döblins Meisterwerk „Berlin Alexanderplatz“. Alle auftretenden Figuren zappeln wie Franz Biberkopf tagtäglich ums Überleben, geben sich  richtig Mühe, etwas daraus zu machen, und trotzdem ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie über das wie zufällig gestellte Bein stolpern, um der Länge nach hinzuschlagen.

Die Protagonisten der Kate Tempest rappeln sich anders als „Franzeken“ zum Glück immer wieder unbeirrt auf, und halten an ihren Träumen fest, weil sie glauben, dass es sich lohnt. Nach jedem Sturz bildet sich ein dickerer Schorf auf den erlebten Wunden und damit auch die Voraussetzung sich gegen die Gesetze des geldgierigen Molochs Großstadt zu wehren – um einem einsamen Dasein andere, (utopische?) Lebensentwürfe entgegenzusetzen.

Kate Tempest - Rapperin und Autorin.

Kate Tempest – Rapperin und Autorin.

 

 

 

 

 

 

 

Abgründe in heller Farbe. Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Elias Canetti ist ein bekannter Name der Weltliteratur. Veza Canetti kennen hingegen nur wenige. Vielleicht liegt das nicht zuletzt daran, dass sie ihren Mann zu Lebzeiten in seinem Schaffen aufopferungsvoll unterstützt hat, während er sich nicht viel für ihr Schreiben interessierte. Dabei glänzen ihre Texte von einer einmaligen, gesellschaftspsychologischen Schärfe und lesen sich trotz Tiefenwirkung fast wie nebenbei.

Der Roman „Die gelbe Straße“ spielt im Wien der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und wurde erst 28 Jahre nach Veza Canettis Tod, 1990 im Fischer Verlag, veröffentlicht. In dem Text geht es um Einzelschicksale, Individuen, deren moralisches und unmoralisches Handeln im Mikrokosmos unter die Lupe genommen wird. Verhaltensweisen, die normalerweise gut versteckt wirken und nicht für jeden offen sichtbar sind:

„Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte. Dem gewöhnlichen Spaziergänger fallen sie nicht auf“.

Umso mehr wirken sie auf den auktorialen Erzähler. Er hat sie alle im Blick – die ausgebeuteten, im Beruf und in der Ehe unterworfenen Subjekte zum Beispiel. Im Kapitel mit dem Titel Der Kanal werden etwa arbeitssuchende Dienstmädchen beschrieben, die abhängig sind von einer geldgierigen Arbeitsstellenvermittlerin, die unerbittlich ihre „Mädchen“ versucht, in den richtigen Haushalt zu bringen, um eine ordentliche Provision kassieren zu können. Dass Männer Frauen physisch und seelisch ausbeuten, ist ein bekanntes Phänomen. Wie stark das Verhältnis, gerade auch das Konkurrenzverhältnis unter den Frauen ist, wird jedoch selten beleuchtet, und macht diesen Roman gerade aus emanzipatorisch-feministischer Sicht zu einem Erkenntnisjuwel. Wie auf dem Viehmarkt werden die hilflosen, fragilen Personen feil geboten, und oft bleibt ihnen nur der „rettende“ Sprung in den Kanal, oder die Version, so zu tun, als wollten sie springen, weil erst dann vom Staat Hilfe erwartet werden kann. Natürlich bringt ihnen diese Hilfe nur etwas, wenn sie beim Täuschungsmanöver nicht ertrinken:

„‚Die Kostfrau will mich auf die Straße setzen.‘

‚Geh ins Obdachlosenheim.‘

‚Auf der Polizeidirektion ist ein Heim für Hausgehilfinnen (…)‘

‚Ja, aber nur wenn sie Selbstmord begangen haben. Wenn eine von euch heutzutage ins Wasser springt, macht sie direkt ihr Glück. Herausgefischt wird sie und kommt zur Polizeidirektion. Dort kann sie leben, wie der Herrgott in Frankreich. Kost und Quartier, bis sie einen Posten hat. Sogar den Posten verschafft man ihr unentgeltlich. Die reinste Schmutzkonkurrenz, wir zahlen die Steuern und die Polizei vermittelt Posten.'“

Unter den unmoralischen Frauen im Roman steht eine besonders bösartige Person im Fokus der Betrachtung, die nur „die Runkel“ genannt wird. Ein Name, der an ein Gewächs erinnert, sich wie Unkraut überall durchsetzt und nicht zu vertreiben ist. Die Runkel, eine skrupellose und gerade deswegen erfolgreiche Geschäftsfrau, besitzt zwei florierende Geschäfte in der „Gelben Straße“. Einen Seifenladen und eine Trafik; im letztgenannten beschäftigt sie zeitweise eine gutaussehende junge Frau, der sie kündigt, weil sie es nicht erträgt, dass diese keine schwerwiegende körperliche Behinderung quält. Die Runkel selber ist abhängig von immer wieder wechselnden Angestellten, die sie im Kinderwagen durch die Gegend schieben. Ihr Selbsthass schadet letztlich dem guten Dienstmädchen Rosa, das anstelle von ihr in der Anfangspassage von Der Unhold im Straßenverkehr umkommt:

„Eines Tages, als die Runkel im Kinderwagen über die Straße geführt wurde, überkam sie eine solche Verzweiflung über ihr elendes Leben, daß sie nichts anderes wünschte, als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine tausend-Kilo-Walze oder eine einfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen.“

Persönliches Unglück kann bösartig machen – warum sich ihr Zorn gerade auf wehrlose Frauen richtet, lässt sich nur durch fehlendes Solidaritätsbewusstsein erklären. Das Schneewittchenprinzip („Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die schönste im Land“) klingt in den zu einem Roman zusammengefügten Erzählungen immer wieder an und zeigt, warum Emanzipation vom Mann so unglaublich schwierig ist, wenn der Neid auf das eigene Geschlecht die Frauen untereinander auseinandertreibt.

Die schöne, stets freundliche Angestellte in der Trafik weiß sich gegen zudringliche Verehrer zu wehren. Leider gibt sie durch ihren toughen Auftritt der Runkel eine Rechtfertigung, sie zu feuern. Weil der Verschmähte sich aus Rache für die Zurückweisung täglich bei ihr über die Angestellte beschwert:

„Der dicke Lederhändler im Sessel war auf dem Sprung. Eine Minute später hatte er eine Ohrfeige sitzen und rannte wütend hinaus.“

„‚Was die Leute sich erlauben möchten! Stürzt sich auf mich und gibt mir einen Kuß'“.

„Und sie zeigte auf ihre weiche Wange, als wäre dort eine Krätze, ein Schandfleck, nicht mit Weihwasser reinzuwaschen.“

Auch wenn alle Kunden im Laden ihr erklären, dass sie sich für sie bei der Runkel einsetzen werden, machen es nur die wenigsten. Versprechungen werden nicht eingehalten, es heißt, sich im Leben alleine durchzubeißen. Die körperliche Schönheit steht ihr dabei im Weg, deutet darauf hin, dass sie aus konservativer Sicht gesehen, ausschließlich für die Ehe gemacht ist.

Auch den schon beschriebenen, von Männern unabhängigen Dienstmädchen ergeht es nicht gut, wenn sie ganz ansehnlich sind. So muss „Emma“ an ihrem neuen Arbeitsplatz feststellen, dass sie zur „Kitty“ wird, und dem „Kater“ des Hauses sexuell zur Verfügung zu stehen hat. Rettung, auch durch die Hausherrin, ist nicht in Sicht:

„Die Emma sah auf das Lächeln der Frau Vaß und auf die pfiffig stechenden Augen des Herrn vor ihr, es lag so viel Überlegenheit in den Blicken der beiden, daß die Emma auf dem Sessel sitzen blieb, wie festgebannt, obwohl sie gerne davongelaufen wäre.“

In dem Abschnitt mit dem Titel Der Oger wird die Scheinheiligkeit sämtlicher beschriebener Individuen am eindrücklichsten erzählt. Kurz nach der Hochzeit bemerkt die Ehefrau, welch doppeltgesichtigem Mann sie sich da anvertraut hat. Nach außen freundlich und großzügig, zeigt der Unhold (Herr Iger) im privaten, familiären Raum sein wahres Gesicht. Den Herrn, den er eben noch scheinbar herzlich mit Pralinen beschenkt hat, beschimpft er wenige Sekunden später vor den entsetzten Augen seiner Frau:

„‚Der Teufel soll ihn holen!'“ sagte jetzt Herr Igel und zog sein Lederkissen zurecht. Bald atmete er tief und aufdringlich. Die junge Frau ihm gegenüber sah ihn erschrocken an. Sie saß ganz starr.'“

Die Gewaltspirale hört nicht auf sich zu drehen, aber es wäre kein Text von Veza Canetti, wenn es nicht auch hier für die unterdrückte Gattin ein selbstinitiiertes Schlupfloch gäbe.

Erfrischend berichtet der Erzähler von zutiefst (un)menschlichen Verhaltensweisen und beschreibt aber immer auch Auswege aus der Misere.

Alle Beziehungen zwischen den Menschen beleuchten in der „Gelben Straße“ letztlich ein universelles Thema:

es geht um den neidvollen Wunsch nach Macht über den Einzelnen, der Unterdrückungsmechanismen hervorbringt und demonstriert, wie bereits die „Kriege im Kleinen“, zwischen den Normalbürgern, den 2. Weltkrieg ankündigen. Die Bewohner entwickeln keinen Sinn für die Möglichkeit politischer Veränderung, kein Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Vielmehr herrscht das Geld und somit die monomanische Gier danach. Individuelles Glück wird über das Gemeinwohl gestellt – gut durchs Leben kommt der, der zu tricksen weiß. So werden Themen, die über den persönlichen Erfahrungshorizont der Bewohner hinausgehen ausgeblendet, bis das nicht mehr möglich ist, weil der Krieg vor der Tür steht.

Zu den zahlreichen psychologischen Anspielungen und Beschreibungen im Roman ist ein Aspekt zu nennen, der bis heute Aktualität besitzt. Je brüchiger die Welt erscheint, umso stärker sucht jedes Individuum seinen Halt darin, umso verkrampfter klammert es sich fest an scheinbar festen Dingen. Zu versuchen, sich nach Jean-Paul Sartre im Spiegel des anderen zu sehen, wie es das folgende Zitat demonstriert, mag einen Rettungsanker bieten. Wer wiederum die anderen in sich erkennt, spürt zwar unendliche Schmerzen, aber schreibt als Reaktion darauf auch wunderschöne Texte. Veza Canetti ist der Beweis:

„“‚Du siehst nur dich in den andern wieder, Mutter.'“

„‚Das ist mein Halt, Diana.'“

„‚Ich sehe die andern in mir, das ist meine Qual.'“

„‚Und deine Kunst, Kind.'“

 

Blaue Drachen und weibliche Geeks. Unicorns don’t swim. (Antje Wagner Hrsg.)

Antje Wagner (Hg.). Unicorns don't swim. Erzählungen.

Antje Wagner (Hg.). Unicorns don’t swim. Erzählungen.

Letztens war ich auf einer Lesung der „Welt“- Kolumnistin und Buchautorin Ronja von Rönne. Der Ronja von Rönne, die vor einem Jahr einen shitstorm im Netz auslöste, weil sie schrieb, dass der Feminismus sie anekele. Während der Lesung aus ihrem Roman Wir kommen (Aufbau Verlag, 2016) und dem zwischendurch geführten Gespräch mit dem Moderator, wurde mir deutlich, warum Frau von Rönne persönlich keinen Feminismus braucht:

Sie ist der (personifizierte) Feminismus!

All seine historischen Vorreiterinnen, von Olympe de Gouges, über Simone de Beauvoir, zu, meinetwegen Alice Schwarzer, haben sich essenziell in ihrem Bewusstsein festgesetzt, und lassen sie so selbstbewusst agieren, dass der Zuschauer wirklich davon überzeugt wird, dass sich die Plackereien der Aktivistinnen bei ihr gelohnt haben. Also ist er mittlerweile überflüssig, der Feminismus.

Diejenigen, die allerdings eine andere Meinung vertreten, weil sie zum Beispiel weder weiss noch hetero sind, und aus keinem wohlhabenden Elternhaus stammen, gehen dann schnell im amüsanten Geplapper der Privilegierten unter. Aber gut. Müssen sie eben lauter sprechen, sich Gehör verschaffen. Außerdem:  wer hat schon Lust, sich etwa mit dem Leben einer ausgebeuteten Putzfrau zu beschäftigen, wenn es Erzählungen über Hippsterpartys gibt, die im immer gleichen Brei das eigene, eintönige Leben bestätigen und in ihrer Langeweile ungemein beruhigend wirken.

Ronja von Rönne vertextet die eine Wirklichkeit, und das macht sie überzeugend – keine Frage. Sie beschreibt eine künstliche, hohle Welt ohne Substanz, in der stromlinienförmig agiert, bzw. bloß noch seelenlos reagiert wird.

Aber gab es und kennen wir diese Wirklichkeit nicht schon zur Genüge? Aus interessantem Schreibstoff bestehen doch eigentlich die Momente, in denen Formen der (utopischen) Befreiung, wenn auch nur blitzlichtartig, aufscheinen.

Erfrischend alternative Wirklichkeiten werden uns in der Anthologie Unicorns don’t swim (AvivA Verlag, 2016) von der Herausgeberin und Mitautorin Antje Wagner vorgestellt. Im Vorwort bemerkt sie treffend, dass alle Kurztexte, teilweise sehr junger Autorinnen, wie etwa In Strömen von Sophie Micheel (Jahrgang 1991) oder Und wie heißt du? von Kim Katharina Salmon (Jahrgang 1999), ein sich überschneidendes Element haben:

„Unicorns don’t swim lässt uns in 22 Erzählungen auf ganz unterschiedliche Weisen über unsere eigenen Erwartungen stolpern, über Erwartungen an eine Geschlechterrolle und über Muster, die unseren Blick fest im Griff haben. Oftmals merken wir nur an einer Irritation, wie sehr wir mit diesem vorgeprägten Blick leben – und lesen. Dieses Moment der Irritation ist es, was die Erzählungen dieser Sammlung verbindet.“

Stark an den Geschichten dabei ist, dass keine Gegenbilder zu den Stereotypen erzählt werden, wir also keine Opfergeschichten vorgesetzt bekommen. Man ist als Leser/in vielmehr verwundert, wie schwer abzuschätzen ist, wie die Erzählung ausgeht. Obwohl einem bereits nach der Lektüre des Klappentextes bewusst ist, dass es (auch) um „queere“ Geschichten gehen wird, in denen heteronormative Lebensformen infrage gestellt werden, entsteht immer wieder neu ein Moment der Überraschung – worüber man sich gleichfalls selbst erneut wundert, weil man sich doch als „gegenderte“ und jederzeit eigenständig denkende Person empfindet.

Vielleicht sind es u. a. die literarischen Formen der Verfremdung, die diesen Effekt beim Lesen erzeugen, wie zum Beispiel in der Erzählung Feuer und Flamme von Antje Wagner. Darin geht es um zwei frischvermählte Frauen. Eine der beiden verwandelt sich kurz nach der Hochzeitsnacht in einen „Drachen“:

„Noch angenehm erschöpft von der vergangenen Nacht machte ich die Badezimmertür auf, starrte eine Weile verständnislos hinein, machte die Tür wieder zu, zählte bis zehn und öffnete sie wieder. In meinem Badezimmer stand ein Drache. Der Drache war blau, kämmte sich gerade seine drei wolligen, ebenfalls blauen Haare und drehte sich dann zu mir um. Er sah mich irgendwie – begeistert an.“

Wofür auch immer der Drache genau steht – zeigen lässt sich an dieser Passage gut, warum der Erzählband nicht nur für Jugendliche eine wahre, identitätsstiftende Erkenntnisfundgrube ist, sondern auch die so offenen und vorurteilslos-aufgeklärten Erwachsenen herausfordert.

Ein weiteres Highlight der Sammlung ist die Erzählung Metamorphose von Tania Witte:

„Eines Morgens vor eintausendsiebenhundertvierzig Tagen wachte Alina auf und hatte keine Mutter mehr. Kein klapperndes Geschirr hatte sie an diesem Sonntag geweckt, es hatte nicht nach Kaffee und Toastbrot gerochen und niemand hatte durch die Bettdecke in ihren großen Zeh gekniffen…“

Da verschwindet von einem Tag auf den anderen die Mutter, also eine typische Scheidungskindgeschichte. So der erste Eindruck. Nach und nach entsteht eine Ahnung davon, wohin die Reise geht, und man erwacht mit einem Schmunzeln. Ein Geheimnis, das in einer emanzipierten Gesellschaft kein Geheimnis sein dürfte, führt in Metamorphose zu einer Traumatisierung, die nachdenklich macht. Ohne Pathos oder moralische Belehrungen wird hier vom Ungewöhnlichen erzählt, mit dem Effekt, Tabus infrage zu stellen.

Dabei verliert sich keine der Erzählungen in moralisierenden Phrasen, gerade weil die Protagonistinnen rebellisch sind. Sie brauchen unser Mitleid nicht, da sie sich kämpferisch in ihrem eigenen, authentischen way of life vorstellen, um nicht am „widerlichen Einheitsbrei“ (Katrin Schrocke, Ira) unserer heutigen Gesellschaft zu ersticken.

Die jungen Frauen bewahren Haltung in einem familiären Umfeld, von dem sie nicht akzeptiert werden, weil sie keine schönen Kirschköniginnen sein wollen, sondern lieber Hanteln stemmen und die mindestens genauso ruhmreiche Rolle der Lebensretterin spielen (Katrin Schrocke, Kirschkönigin).

Die Titelerzählung Unicorns don’t swim (Sabine Funder) ist für weibliche Computer-Geeks eindrückliches Sprachrohr. Durchwachte Nächte auch in Schulwochen gehören für Programmiererinnen dazu, wenn Einhörner nicht schwimmen können und weites Springen über Flüsse erst erlernen müssen:

„Als sie die Kekskrümel abstrich, die sich über Nacht auf Brust und Bauch angesammelt hatten, unterdrückte sie ein Gähnen. Ein rascher Blick in den Spiegel versicherte ihr, dass von dem Glas Nutella, das sie während ihres nächtlichen Programmiermarathons verschlungen hatte, keine verräterischen Spuren mehr zu sehen waren. Die Mundwinkel waren blitzeblank. Siiri fuhr sich einmal durch die raspelkurzen, blau-schwarz getönten Haare und dann war sie auch schon aus der Tür verschwunden.“

Auch in dieser Geschichte kämpft eine junge Frau darum, von den anderen so akzeptiert zu werden, wie sie ist. Es ist ein Glück, dass sich ihr Freund Paul, der mit „hellgrün lackierten Fingernägeln“ Drachen für ein Computerspiel zeichnet, mit ihr zusammen in der Klasse sitzt, und sich solidarisch auf ihre Seite stellt.

Überhaupt spielt freundschaftliche Solidarität in fast allen Geschichten eine große Rolle. Egal ob man sich gegen die Berufserwartungen der Eltern stemmen muss, um seine eigene Identität entwickeln zu können (Antonie Parteil, Hellhelden), oder ob die Utopie geträumt wird, dass es irgendwann einen heimatlichen Ort gibt der, „zwischen entweder und oder“, bestehen darf (Corinna Waffender, Alles, was ich will). Immer ist da zumindest eine Bezugsperson, die die andere oder auch den anderen in seinem Entwurf unterstützt.

Die Journalistin und promovierte Philosophin Carolin Emcke thematisierte vor ein paar Jahren in ihrem autobiographisch gefärbten Buch Wie wir begehren das Schicksal eines Heranwachsenden, der an seiner Homosexualität zerbricht, weil er keinen Halt in einer Gruppe oder auch einem anderen Menschen findet. Aus diesem Grund entwickelt sich die gesellschaftliche Norm, hetero sein zu müssen, zu einer unüberwindbaren, selbstzerstörerischen Macht.

Die Texte der Anthologie hingegen begeben sich, wie bereits betont, nicht (mehr) auf eine mögliche Opferebene, sondern erzählen mit einer Selbstverständlichkeit von gesellschaftlich immer noch wenig etablierten Verhaltens- und Lebensweisen. Effekt ist hierbei, dass die innere, oft künstlich aufrecht erhaltene Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwimmt, ohne dass die Leser/innen es bewusst bemerken.

Wir bräuchten viel viel mehr solcher Stimmen – gerade auch für den Schulunterricht – um auf subersiv-spielerische Weise, früh anerzogene Erwartungen an Geschlechterrollen zu hinterfragen und Lebensentwürfe aus ihrem unfreien Korsett immer wieder reproduzierter Normen zu befreien.

Ronja von Rönne muss sich für diese anderen Erzählungen, diese anderen Geschichten von Frauen, nicht interessieren, weil sie der Feminismus nicht interessiert. Es ist nur schade, weil der Feminismus intelligente Frauen und Männer prinzipiell eigentlich braucht, damit alle Formen von Wirklichkeit zusammen das eine Ziel verfolgen können:

sich frei zu fühlen im eigenen Lebensentwurf, weil er der eigene sein darf.

 

 

 

In der Wildnis weise. Jocelyne Saucier. Ein Leben mehr.

Jocelyne Saucier. Ein Leben mehr.

Jocelyne Saucier. Ein Leben mehr.

Geschichten über starke Männer in der Wildnis, die sich auf die eine oder andere Art beweisen möchten, kennt man zur Genüge. Auch Leonardo di Caprio musste sich für den Oskar in „The Revenant“ vor kurzem ordentlich im Dreck und Blut suhlen, um endlich die begehrte Trophäe zu bekommen. Eine magische, archaische Anziehungskraft scheinen diese Helden auf ihre Rezipienten zu haben – von Odysseus bis heute wiederholen sich Erzählmuster, die sich ins kulturelle Gedächtnis einbrennen.

Aber was ist eigentlich mit den Heldinnen? Das sind oft die wartenden, klug-geduldigen Wesen am Spinnrad (Penelope). Diejenigen, die darauf hoffen, dass ihr Held sie unversehrt, nach all den abenteuerlichen Eskapaden in die starken Arme schließt. Irgendwie unbefriedigend – dachte sich vielleicht auch die kanadische Autorin Jocelyne Saucier, und siedelte ihren Roman zwar gleichfalls im Heldenreich an, aber in einem eher unpopulären. Helden sind hier die Menschen, die gerade niemandem mehr etwas beweisen müssen, und sich trauen, dazu zu stehen. Drei alte, wirklich alte, also über achtzigjährige Männer, sind in „Ein Leben mehr“ zunächst die Protagonisten. Sie haben sich in die Wildnis zurückgezogen, weil sie Angst haben, ihre Freiheit zu verlieren. Genauer formuliert es Tom, einer der „alten Helden“:

„Man ist frei, meine Schöne, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt.“

ergänzend dazu Charlie, sein Freund in der Wildnis:

„Und wie man stirbt.“

Humorvoll vorgetragen werden diese Weisheiten einer Fotoreporterin, die Bilder von den Überlebenden der großen kanadischen Waldbrände Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (Norden von Ontario) schießen möchte, und die Männerrunde eines Tages stört. Sie hat sich von den falschen Wegbeschreibungen des Aussteigerfreundes nicht beirren lassen, ist wie eine echte Jägerin ihren Instinkten gefolgt. Auch wenn die Greise von der Regierung längst für tot erklärt worden sind, für diese Frau sind sie durchaus sichtbar, und vor allem riechbar:

„Es war der Geruch von Waldmenschen, der Mief von Männern, die seit Jahren keiner Dusche oder Badewanne nahe gekommen waren. In ihren Hütten roch es nach ungewaschenen Körpern und ranzigem Fett, weil sie sich hauptsächlich von Wild ernährten, gebraten oder als Eintopf, ein Fleisch, dem man viel Fett beigeben muss, es roch nach dem Staub, der in dicken Schichten auf allem lag, was nicht regelmäßig bewegt wurde, und es roch nach trockenem Tabak.“

Mit dem Eintreffen der Fotographin, die die Held/innengeschichte auch erzählt, sie aufspürt, verändern sich die geschlechtlichen Konstellationen. Da ist plötzlich eine Frau, die sie nicht nur genau anschaut, sondern mit der Kamera ablichten möchte. Selbst als sie ihr erklären, dass der Überlebende, Ted, den sie sucht, vor kurzem verstorben ist, lässt sie sich nicht verscheuchen.

Ihre Leidenschaft sind die Gesichter alter Leute, sie kann nicht von ihnen ablassen, ist immer auf der Suche nach neuen Motiven:

„Sie liebte ihre brüchigen Stimmen, ihre verlebten Gesichter, die langsamen Bewegungen, ihr Zögern, wenn ihnen ein Wort nicht einfiel oder eine Erinnerung sich nicht greifen lassen wollte. Die Fotografin liebte es, wie die Alten auf dem Strom ihrer Gedanken dahintrieben und manchmal mitten im Satz einschliefen.“

Aber wahrscheinlich wäre sie nicht so häufig im Camp aufgetaucht, wenn nicht plötzlich eine weitere, auch sehr alte Frau dort eingetroffen wäre. Eine „Wahnsinnige“, die in Wirklichkeit einfach nur „eine allzu große Traurigkeit“ in sich trägt. Eine Traurigkeit, die der Gesellschaft das Recht gibt, sie ihr Leben lang in die Psychatrie zu sperren, weil sie nicht der Norm entspricht.

An diesem seltsamen  „Geschöpf der Lüfte“ entspinnt sich der eigentliche, existenziell tiefgehende Strang der Geschichte; daran wie äußere Gesetze verhindern können, dass sich der Mensch in seiner andersartigen Einzigartigkeit zeigt. Genau diesen Raum bekommt die alte Dame, die eine „apokalyptische Schönheit“ in sich trägt, und deren Blick auf die Dinge nie normal, d.h. oberflächlich ist, bei den Männern in der Wildnis eingeräumt. Sie schützen und bewahren ihren zerbrechlichen Schein und bekommen dafür mehr zurück, als sie sich jemals hätten erträumen können.

Aber auch das Leben in der Wildnis verliert seinen Reiz, wenn man irgendwann alleine mit ihr kämpft. Gerade die Winter in den kanadischen Wäldern sind hart, und die Kräfte der starken Männer nehmen stetig ab, weil der altbekannte „Freund“ Tod zwar noch geduldig wartet, aber präsent ist, und sein Recht über kurz oder lang einfordern wird:

„Am Ufer steht eine Gestalt und sieht ihnen nach. Der Tod hat alle Zeit der Welt. Sollen sie ruhig hoffen, ihm zu entkommen. Er wird sie schon noch kriegen.“

Manche Dinge müssen an die Öffentlichkeit, besondere Geheimnisse zum Beispiel, weil sie sonst nicht wirken können. Deswegen ist die Fotoreporterin die eigentliche Heldin, indem sie der Nachwelt etwas überliefert, wovon nachfolgende Generationen neue Kräfte tanken können. Sie fügt mit Hilfe der alten Frau mit dem besonderen Blick, Puzzle für Puzzle eines Rätsels zusammen, das die kanadischen Wälder sonst begraben hätten:

Die Geschichte einer unsterblichen Liebe in Bildern.

Für die Leser/innen bleibt nach der Lektüre dieses, auch sprachlich beeindruckenden Romans, vielleicht die Bestätigung für einen zeitweilig auftauchenden Wunsch, der von einem Mann auf einer Bank im High Park geäußert wird:

„Er wünsche sich fort, weit fort, er wolle mit all dem nichts mehr zu tun haben, wolle sich einfach irgendwo verkriechen, wolle nichts mehr erklären müssen. Er sei erschöpft. Von der Arbeit, der Verantwortung, den Erwartungen. All das erklärte er der Fotografin matt, während sie ein Stück Brot aus der Tasche zog und die Tauben fütterte. Ich würde am liebsten verschwinden, sagte er, unsichtbar sein, für niemanden mehr existieren.“

Die leeren Hütten am See im Wald werden sich also auch in der Gegenwart wieder mit Held/innen füllen. Bleibt zu hoffen, dass auch über ihre Existenz weiter berichtet wird, damit die Möglichkeit, anders zu leben als andere, immer wieder aufscheint. Am liebsten natürlich dann doch zu zweit, damit man nicht wie der Held im Film „Into the Wild“ einsam im Schnee erfriert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Exkurs: Über Gendergrenzen hinweg. Kriminalromane von Fred Vargas.

Fred Vargas. Fliehe weit und schnell

Fred Vargas. Fliehe weit und schnell.

Vor kurzem saß ich mit einer sehr belesenen älteren Dame im Kaffee und musste mich einmal wieder dafür rechtfertigen, warum ich keine Krimileserin bin. Ich überlegte kurz und sagte dann doch: ich lese nur Kriminalromane von Fred Vargas. Mit der Überzeugung, die Kriminalliteraturexpertin würde verständnisvoll nicken. Stattdessen schaute sie mich an, und signalisierte mir, dass ihr der Name Fred Vargas nichts sagte. Jetzt war es an mir, den Kopf zu schütteln. Später fiel mir ein, dass ich diese Situation schon häufiger erlebt hatte, dass ich erklären musste, wer diese Autorin mit dem männlichen Vornamen ist. Mehrere Stichworte rattere ich frei nach Buchhändlerinnenmanier dann immer herunter:

schreibt unter Pseudonym, hauptberuflich Archäologin – was ihre Texte besonders intelligent macht, aber, die eigentliche Genialität dieser Texte zeigt sich in den Dialogen der Ermittler/innencrew. Dialoge voller Charme, Sprachwitz, Skurrilität.

Da ist nicht nur Kommissar Adamsberg, der auf völlig unkonventionelle Art Fälle löst. Genauso wichtig für den Plot sind die ermittelnden Nebenfiguren; der alleinerziehende Vater Danglard zum Beispiel, der die seltsamsten Zeichen an Tatorten zu deuten versteht. Egal ob scheinbar gerade die Pest in Paris ausgebrochen ist (Vargas. Fliehe weit und schnell), oder ein auferstandener Robespierre sein Unwesen treibt. Er entziffert Hinweise, die ihn als historischen Kenner und weniger als Polizisten entlarven.

Wenn es einen körperlichen Sieg zu erringen gibt, wird Retancourt, die starke Frau der Crew, vorgeschickt. Sie mäht alles nieder, was für die Ermittler gefährlich werden könnte. Ihren eigenen, dickschädeligen Kopf behält sie dabei natürlich, ist keine Aufziehpuppe, die auf Befehl handelt. Vielleicht macht das die Figuren der Fred Vargas im besonderen aus:

Fred Vargas. Das barmherzige Fallbeil.

Fred Vargas. Das barmherzige Fallbeil.

sie reagieren nicht einfach nur auf Befehl, sondern handeln nach ihrem individuellen Gutdünken. Adamsberg ist nicht der unanfechtbare Chef, sondern muss sich die Gefolgschaft seiner Leute immer wieder neu erarbeiten. Was oft nicht einfach ist, weil er der intuitive, überhaupt nicht rationale Ermittler ist. So kann es beispielsweise Retancourt, die ihm sonst treu ergeben ist, nicht verstehen, warum er eine Reise nach Island unternehmen muss, um den Fall lösen zu können (aktueller Roman: Das barmherzige Fallbeil). Seine Rechtfertigung ist ein metaphorisches „Jucken“, das ihn in dieses Land treibt. Stereotype Geschlechterzuschreibungen werden hier mühelos über Bord geworfen; Adamsberg ist derjenige, der sich emotional von den Zeichen seines Körpers zu Ermittlungsschritten – im wahrsten Sinne des Wortes – bewegen lässt, und sich sogar der Gefahr aussetzt, seinen Chefposten zu verlieren. Retancourt würde im alltäglichen Wortgebrauch als „Mannsweib“ gelten, ein oft abwertend konotierter Begriff. Hier wird das „Mannsweib“ zur Rettung für den Kommissar. Ihre übermännliche Kraft, also fast schon übernatürliche Power, gepaart mit „weiblicher“ Intuition, führen dazu, dass die oft überlegt-unüberlegten Handlungen des Kommissars nicht in einer Katastrophe enden.

Die Kriminalromane von Fred Vargas sind etwas für Träumer, die surrealistische Handlungsmomente genießen können und gleichzeitig froh darüber sind, dass sie sich nicht zu einem Fantasyroman entwickeln. Sie sind spannend, ohne dafür auf Blutspritzereien zurückgreifen zu müssen, weil sie mit subtiler Psychologie Schauer über den Rücken jagen. Die Vorstellungskraft der Leser/innen sich selbst entwickeln darf, und nicht durch Bilder vorbelastet wird, die oft so manchen Filmabend zu einem hirnlosen, langweiligen Gemetzel werden lassen.

Vargas: "Bei einem Kriminalroman geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Erkenntnis."

Vargas: „Bei einem Kriminalroman geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Erkenntnis.“

Um mit der legendären Hip-Hop-Gruppe „Blumentopf“ zu sprechen, machen eben gerade hier die „leisen Töne Melodien“. Die Töne, heißt, sprachlichen Andeutungen. Wie ein „Jucken“, das einen bei der Lektüre selbst erfasst, ohne dass man weiß, wo man sich nun genau kratzen soll, um erlöst zu werden. Helfen kann nur, den Plot weiter zu verfolgen; seine eigenen Mutmaßungen über potentielle Täter anzustellen und sich vor dem existenziellen Abgrund zu wappnen, der sich auftut, wenn die letzte Seite gelesen worden ist und das quälende Warten auf Nachschub beginnt.

Fred Vargas sagt über ihre eigenen Romane, dass es ihr dabei nicht um Gerechtigkeit gehe, sondern um Erkenntnis. Vielleicht erzeugt dieser Anspruch den Suchtfaktor ihrer Krimis; weil sie bewusstseinserweiternd wirken, indem sie sämtliche Stereotype unterwandern und zuletzt: überraschen.

Erzählungen über den Schmerz. Leslie Jamison. Die Empathie-Tests.

Jamison. Die Empathie-Tests. Cover.

Jamison. Die Empathie-Tests. Cover.

Emotionstheorien gibt es mittlerweile einige. Während sich die analytische Philosophie an den Begrifflichkeiten abarbeitet, versucht die Phänomenologie zusätzlich genauer zu beschreiben, wie Gefühle körperlich erfahren werden. Aurel Kolnai, Philosoph aus der Denktradition Husserls und Schelers, bemerkt in seiner Abhandlung „Ekel, Hochmut, Hass“, Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, in Hinblick auf den Hass:

Was der Haß verlangt und verheißt, ist eine Art Entscheidung über das Schicksal der Welt„.

Der Sozialphilosoph Axel Honneth kommentiert dazu im Nachwort der Abhandlung: „Wer hasst, so ist Kolnai überzeugt, wird durch das beißende, kaum zu meisternde Gefühl in all seinen Weltbezügen ergriffen; daher kommt dem Hass dieselbe biographische Tragweite zu, die auch Geburtsumstände, Krankheiten oder Charakterformationen für den Einzelnen besitzen.“

Gefühle formen somit das „Schicksal der Welt“, indem sie in allen Weltbezügen mitmischen, und gerade im zwischenmenschlichen Bereich das Individuum darauf hinweisen, dass das eigene Leben letztlich zerbrechlich, aber vor allem unverfügbar ist.

Verfügbar werden sie nur in dem Moment, in dem man jemanden findet, der sie auf irgendeine Art und Weise versteht, weil sie erst dann real, das heißt, erträglich werden.

An diesem Punkt setzt Leslie Jamisons Essaysammlung „Die Empathie-Tests“, Über Einfühlung und das Leiden anderer, an. Im Fokus steht der eigene Schmerz, die eigene schmerzhafte Körperlichkeit, die vom Gegenüber niemals genau auf die Art nachvollzogen werden kann, wie sie sich tatsächlich anfühlt. Das Problem des Fremdpsychischen hält Menschen aber nicht davon ab, zumindest zu versuchen, sich in den anderen hineinzuversetzen. Empathisch zu sein bedeutet für Jamison, keine Mühen zu scheuen, den tiefen und oft verborgenen Schmerz des Gegenübers für sich erkennbar, also nachvollziehbar zu machen:

„Empathisch zu sein bedeutet herauszufinden, wie man die Probleme anderer ans Licht befördert und so überhaupt erst sichtbar macht. Empathisch zu sein bedeutet nicht nur, zuzuhören, sondern auch, überhaupt erst die Fragen zu stellen, die dann Antworten hervorbringen, die man anhören muss. Empathie bedarf des beharrlichen Nachfragens genauso wie des Vorstellungsvermögens.“

Sichtbar werden Schmerzen dadurch, dass sie beschrieben werden. So eindrücklich wie möglich; am besten so, dass es den Leser/innen selbst weh tut, sie hineingezogen werden in die Qualen anderer. Die Lektüre der Essays wäre aber kaum zu ertragen, wenn die Autorin nicht immer wieder analytische, bewusstseinserweiternde Kommentare zwischen die Beschreibungen über den Schmerz einfließen ließe.

Im ersten Essay: „Die Empathie-Tests“, werden die Leser/innen zunächst mit dem Leiden der Autorin konfrontiert. Die Reise in die Schmerzen der Anderen beginnt somit beim Subjekt der Erzählenden. Ihre Erfahrungen, die Leslie Jamison als Patientendarstellerin in einer Klinik gesammelt hat, lässt sie mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern in Berührung kommen, deren Schmerzvarianten sie möglichst authentisch vermitteln muss. Gute Arbeit kann sie nur leisten, wenn sie sich in den (fiktiven) Körper einfühlt, die Symptome in sich aufsaugt und möglichst authentisch zum Beispiel die „Frau mit den Krampfanfällen“ spielt. Ziel ist es, sogenannte Empathiepunkte an den Medizinstudenten zu vergeben.

Wenig empathische Ärzte begegnen Jamison bei ihrer eigenen Krankheitsgeschichte, aber auch vom Lebenspartner fühlt sie sich während ihrer Operationen unverstanden. Ein guter Freund kritisiert ihre Forderungen mit den Worten:

„Deine Gefühle zu erraten ist, wie eine Kobra mit einem Stethoskop zu beschwören.“

Um Verständnis für individuell empfundene Schmerzen zu bekommen, muss man bereit dazu sein, seine Gefühle mit anderen zu teilen, darf sie nicht weiter für sich alleine beanspruchen. Was der Autorin in der Simulation gelingt, nämlich ihre Gefühle den Studenten so zu vermitteln, dass ihr geholfen wird, funktioniert im eigenen, sozialen Umfeld nur schwer.

Wie werden meine Schmerzen für andere nachvollziehbar und dadurch für mich eine erträgliche Realität, mit der ich nicht alleine bin?

In ihrem zweiten Essay über sogenannte Morgellonkranke mit dem Titel „Teufelsköder“, geht die Autorin dieser Frage auf den Grund. Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung von Realität, und wenn Morgellonkranke meinen, innerlich von Würmern zerfressen zu werden, dann ist das eine Form des Schmerzes, der anerkannt werden muss. Leslies Kritik ist hier, dass die Wirklichkeit der Medizin über die persönlichen Empfindungen einzelner Menschen gestellt wird. Die Autorin besucht ein Treffen der „eingebildeten Kranken“, reist zu ihnen, um zuzuhören und den Schmerz als Schmerz anzuerkennen, auch wenn er nicht ihrer eigenen Realität entspricht:

„Ich habe ihm nicht so geglaubt, wie er wollte, dass ihm geglaubt wird. Ich habe nicht geglaubt, dass Parasiten Tausende Eier unter seine Haut gelegt haben, doch ich habe ihm geglaubt, dass es so weh tut, als ob.“

Auf den ersten Blick wirkt dieses Unterfangen verrückt. Etwas verstehen zu wollen, was eigentlich nicht zu verstehen ist, weil es nachweislich nicht existiert. Ein Grund, warum sich ein Großteil der Bevölkerung von Morgellonkranken abwendet, und Individuen mit dieser Krankheit das Gefühl der Zugehörigkeit in der Welt verlieren, weil ihre Empfindungen als Spinnerei abgetan werden. Jamison kritisiert hier die Vorstellung von einem ganzheitlichen Welt- und Selbstverständnis:

„Das Beharren auf einem dem Subjekt äußerlichen Schadensverursacher entspricht einem Bild vom Selbst als abgeschlossen, als Ansammlung körperlicher, geistiger und spiritueller Komponenten, die zusammen einem Gestaltganzen dienen: dem Wesen selbst. Und das, obwohl dieses Selbst in Wirklichkeit viel weniger integriert und ganzheitlich ist und zur Selbstsabotage neigt – so jedenfalls erlebe ich es.“

Eigene Erfahrungen der Autorin fließen auch in diesem Essay immer wieder mit ein. So meint sie selbst zwischendurch Würmer in der Haut zu spüren, gerät in existenzielle Gefahr, weil sie in ihrer ausgeprägten Fähigkeit zur Empathie das Parasitenkribbeln zu spüren meint. Vielleicht ist das der Grund, warum Morgellonkranke oft sozial völlig isoliert leben, weil die Angst einer Ansteckung nicht dadurch verschwindet, dass man sich vergegenwärtigt, dass es sich um eine eingebildete Krankheit handelt.

Die weiteren Essays sind nicht weniger drastisch in der Darstellung körperlicher Befindlichkeiten. Poetische Überschriften wie „Der ewige Horizont“ oder „Nebelzählung“ können nicht verschleiern, dass Jamison eine Strategie verfolgt, die von Seite zu Seite gerade stark empathiefähige Leser/innen unruhiger macht.  In „Der ewige Horizont“ zum Beispiel, beschreibt sie einen Marathon, der alljährlich am Rand des Frozen Head State Park (Tennessee) stattfindet. Es ist ein Wettlauf, der eigentlich nicht gewonnen werden kann, weil die Hindernisse extra darauf ausgerichtet sind, Schmerzen zu bereiten, die Teilnehmer nach dem Schmerz regelrecht suchen. Sie streben nach erfahrbarem Leid als ontologischem Prinzip, als einer Idee, die jedes Jahr verfolgt wird. Dieser Essay ist meiner Meinung nach einer der stärksten, weil er unmissverständlich analysiert, warum Schmerz, und selbst nur das Streben danach, Lust erzeugen kann. Und sei es vor allem deswegen, weil die Zurückgebliebenen sich Gedanken über ihre geliebten Wettläufer machen, sich darum sorgen, ob es ihnen trotz Einsamkeit in der Wildnis gut geht. Die berechtigte Frage nach dem Warum der Schinderei beantwortet Jamison folgendermaßen:

„Ich tue es, weil es so weh tut und ich trotzdem entschlossen bin, es weiter zu tun. Die schiere Grausamkeit der Anstrengung impliziert, dass die Anstrengung es wert ist. Der Zweck liegt in der Sache selbst, nicht in einer ihrer äußerlichen Artikulation.“

Von Essay zu Essay werden die Leser/innen immer stärker in den Sog fremder Emotionen hineingezogen. Wir begleiten die Autorin zum Beispiel hinein in die Seele eines Strafgefangenen, lassen uns zwischendurch auf Sentimentalitäten ein, die nach Ansicht der Autorin nur als sentimental abgestempelt werden und doch dabei eigentlich den Horizont der eigenen Erfahrungen erweitern. Ihr Exkurs zum Thema Süßigkeiten wird zu einer lustvollen Verteidigung aller Naschkatzen und -kater, und es ist eine intellektuelle Freude nachzuverfolgen, wie sie die Begierde nach Süßem mit der Lust nach Sentimentalitäten in Verbindung bringt. Ein Sich-einlassen auf „klebrigen“, süßen Kitsch, ist ihrer Meinung nach manchmal wichtig, um den harten Boden der Realität besser zu begreifen und damit leichter zu ertragen.

In den letzten Kapiteln zum „weiblichen Schmerz“ verliert der Text leider ein bisschen an geistiger Originalität. Schmerz wird bis heute als konstitutiver Bestandteil von Weiblichkeit gesehen, und ist doch vor allem ein allgemeiner Aspekt weiblicher Erfahrung. Hier fehlt es teilweise an neuen Ideen und Erkenntnissen und die Autorin verliert sich in Geschwätzigkeit. Eine Gefahr, die immer besteht, wenn Beschreibungen die Theorie ersetzen und nicht einfach nur literarisch unterfüttern. Die erzählten Erfahrungen der Essaysammlung leben gerade von der analytischen Reflexion und werden ohne diese zu banalen Alltagserfahrungen (z.B. zum Thema Liebesschmerz).

Dass Schmerz immer auch Produkt von Repräsentation ist, also Selbstinszenierung, geht aus den letzten Kapiteln dennoch klar hervor. Warum dieser Schmerz in der Gesellschaft oft nicht ernstgenommen wird, zeugt von der fehlenden Empathiefähigkeit der Welt als einer „Richterin“ darüber, woran der Mensch leiden darf, und woran nicht.

Die Stärke aller Essays besteht darin, dass sie versuchen, die Leser/innen für die (auch ungewöhnlichen) Leiden anderer zu sensibilisieren, die sonst unsichtbar, weil marginalisiert, blieben. Es sind Schmerzen die, wenn sie denn gesellschaftlich anerkannt werden würden, das „Schicksal der Welt„, mit Kolnai gesprochen, also das Leben unser aller, menschlicher machen könnten.

Ob das Leslie Jamison gelingt, hängt aber auch ein stückweit vom Rezipienten ab.

Die Autorin Leslie Jamison.

Die Autorin Leslie Jamison.

 

 

 

Kassandras Fluch oder die Seelen mordender Mütter. Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Der Roman „Bodentiefe Fenster“ von Anke Stelling (Verbrecher Verlag 2015) umkreist subtil ein uraltes Phänomen: das Rätsel darum, wie Mütter zu Kindsmörderinnen werden. Vielleicht leidet die „Medea“ von heute sogar an ähnlichen Symptomen wie diejenige aus der Antike. Manche Zeiten ändern sich nie, wenn die Fehler wiederholt werden, so lautet jedenfalls die bittere Erkenntnis der vom Alltag überforderten Protagonistin.

Sandra ist in Stellings tragikomischem Text ein Kind der 68-er Generation und müsste eigentlich gelernt haben, wie ein glückliches Leben „herzustellen“ ist. Ein Leben in Gleichberechtigung mit dem Partner, der Partnerin. Am besten in einem Gemeinschaftshaus, mit vielen Gleichgesinnten, mit denen der eigene Nachwuchs mühelos aufgezogen werden kann. Naiv möchte sie mit:

„lebenden Menschen für die Menschlichkeit kämpfen. Für Freiheit und Gerechtigkeit und Wahrheit und Liebe und Trost. “

Doch sie erkennt mehr und mehr, dass „gemeinschaftlich“ nicht unbedingt bedeutet, dass alle am gleichen Strang ziehen, das Ego automatisch in den Hintergrund tritt. Vielmehr entwickeln sich Parzellen der Egozentrik, in der jede Kleinfamilie ihre eigene Suppe kocht, die auch in regelmäßig stattfindenden Diskussionsrunden nicht solidarischer schmeckt. Stattdessen beäugen sich die überforderten Mütter gegenseitig und lauern auf zu Tage tretende „Schwächen“ des Gegenübers, um dann den eigenen, natürlich besseren Lebensstil rechtfertigen zu können.

Sandra ist in diesen Runden die zunächst für alle sympathische Außenseiterin, eine Art Kassandra, die die Probleme in der Gruppe benennen möchte, weil sie als Einzige richtig hinsieht. Doch ihre für die anderen unverständlichen Außenseiterprognosen verhallen im Plenum, weil nicht wirklich gesprochen wird, sondern es eigentlich um etwas anderes geht:

„Diskussion nennt sich das, und ist in Wahrheit nur ein Machtkampf. Wir sind gut darin, Offenheit zu suggerieren. Verletzlichkeit. Ehrlichkeit.“

Dabei möchte Sandra nur eins: dass endlich gemeinsam gehandelt wird, und die Kinder der 68-er, insbesondere die Frauen, nicht denselben Fehler machen wie ihre Mütter. Nur so zu tun, so zu reden, als ob alles besser wäre. Als wäre der Spagat gelungen zwischen Job, Kindererziehung und sexueller Erfüllung.

„Gleich“ ist in der sogenannten Gemeinschaft nur die Fassade, der Bau, der, mit bodentiefen Fenstern ausgestattet, Schutz bieten soll gegen die Sorgen und Ängste der Kleinfamilie und letztendlich für all die zerstörten Zukunftsträume steht. Weil Angst keine fortschrittliche Baumeisterin ist.

Zum Leid der „Kassandra“ bemerken die anderen Eltern den „Zombie-Modus“ gar nicht mehr, in dem sie sich befinden:

„Sie sehen zwar aus, als ob sie noch die wären, die du kennst, aber in Wahrheit funktioniert nur noch ihr vegetatives Nervensystem. Ihre Gefühle sind weitgehend unterdrückt zugunsten elterlicher Pflichterfüllung. Würden sie auch noch einen Bruchteil ihrer Gefühle wahrnehmen, könnten sie so nicht weitermachen.“

Sandra nimmt zuviel wahr, äußere Eindrücke überfluten sie schonungslos. Wie ein Schwamm saugt sie ihre pathologische Umgebung auf, und bekommt es nicht hin, die vielen Dreckpartikel herauszufiltern, bevor sie in ihre Seele gelangen. Gerne würde sie wie ihr Lebenspartner das Plenum schwänzen und stattdessen die halbe Nacht stumpf Science-Fiktion-Filme ansehen. Stattdessen muss sie ihre Meinung kundtun, sich einbringen und für die vermeintlich gute Sache kämpfen.

Negative Kindheitserinnerungen führen zusätzlich nicht unbedingt zu einer Entlastung der Psyche, und die heideggersche Formel, die besagt, dass sich die eigene Existenz in der Sorge um den anderen letztendlich um sich selbst sorgt, das Wohl der Kinder demnach nur die Angst um den nicht zu verkraftenden möglichen Verlust dieser aufzeigt, bringt Sandra an den Rand des Nervenzusammenbruchs:

„Ich bin momentan dabei, mir über diverse Widersprüchlichkeiten klarzuwerden, ich frage mich, wie weit man gehen darf in der Sorge um andere, und ob diese nicht am Ende immer nur die egoistische Sorge um sich selbst ist.“

Die Ich-Erzählerin erträgt ihre eigene, schonungslose Sicht auf die Lebensumstände nicht mehr, weil sie ihr deutlich macht, dass sie genauso versagt wie ihre Mitmenschen. Sie fühlt sich verfolgt von den „Seelen mordender Mütter“ und der Schuld über ihre eigenen, verzweifelten Gedanken.

Mit Blick auf die aktuellen Nachrichten, fällt auf, dass sich Fälle häufen, in denen mordende Mütter vor Gericht stehen, oder flüchtig sind (Spiegel Artikel v. 29.10.2015) . Wie die Psyche einer Person möglicherweise aussieht, die solch eine unverständliche, schreckliche Tat begeht, wird durch die Lektüre von „Bodentiefe Fenster“ von Anke Stelling deutlich. Stark wird der Text allerdings vor allem in den Beschreibungen der Fragilität des eigenen Daseins. So meint Sandra eben noch, ihr eigenes Leben im Griff zu haben, über den eigenen Problemen zu stehen und jederzeit eine helfende Hand, eine gute Stütze für andere sein zu können. Im gleichen Moment kippt das eigene, konstruierte System wie ein Kartenhaus in sich zusammen und übrig bleibt eine ausgebrannte, müde Seele.

Die Protagonistin wird zum Glück nur gedanklich, für Sekunden zur Kindsmörderin, weil ihre Sehnsucht nach Zusammenhalt und dem ewigen, utopischen Streben danach ihr die Kraft gibt, Kassandra zu bleiben und nicht zur Medea zu werden. Nicht zuletzt gefällt sie sich auch ein bißchen in dieser fatalistischen Rolle, weil es ungemein befriedigend sein kann, immer den absoluten Durchblick zu haben – selbst wenn man ihn oft nicht teilen kann.

Zuletzt bleibt der Wunsch nach absoluter, intersubjektiver Harmonie, nach etwas, was sich beste Freund/innen in der Kindheit schwören, und sich verändert, wenn plötzlich eigene Kinder da sind und gutgemeinte Worte nur noch das bereits kranke System stützen:

„Ich weine nur deshalb, weil ich an meine Sehnsucht erinnert werde, etwas zusammen zu machen. An meine Sehnsucht nach der Kraft, die darin liegt, sich einig zu sein. An meine Sehnsucht nach dem Schulterschluss, der Konzentration auf ein gemeinsames Ziel, der Spannung, die im Warten auf den Einsatz liegt. An meine Sehnsucht nach der Schönheit und Lautstärke orchestrierter Einzelstimmen, nach der Sicherheit, dass etwas, das man gemeinsam tut, auch das Richtige ist für alle. Ich weine, weil ich weiß, dass das in erster Linie eine Sehnsucht ist und auch bleiben wird.“

Mit bitterböser Ironie deckt Anke Stelling Paradoxien auf, die in Gemeinschaften automatisch entstehen, und versucht sich gar nicht daran erträgliche Alternativen aufzuzeigen. Stattdessen ist man sich nach der Lektüre sicher, dass das Leben eine Zumutung ist, mit Kindern oder ohne. Retten kann einen nur der utopische Glaube an das Gute, dem man sich annähert indem man die „bodentiefen Fenster“ ganz weit aufsperrt, damit sich zumindest der Blick in der Ferne verlieren kann.

 

 

Copyright © 2024. Powered by WordPress & Romangie Theme.