Ein rätselhafter Satz von Jean Genet befindet sich auf der ersten Buchseite von Der Platz, der Autorin Annie Ernaux:
Ich wage eine Erklärung: Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man einen Verrat begangen hat.
Erst nach und nach lässt er sich in Bezug zum beschriebenen Geschehen setzen, das in der Rahmenhandlung die Emanzipationsgeschichte der Protagonistin aus der Arbeiterschicht heraus in die Akademikerklasse erzählt. Genauer betrachtet, geht es um den Verrat am Vater, für den sie sich als junge Frau vor ihren gebildeten Freundinnen schämt, weil er einen Dialekt spricht, der ihn als unterprivilegierten Menschen entlarvt. Ein Verrat an ihrer Herkunft, eine Entfremdung von ihren Eltern, die wollten, dass sie es einmal besser haben würde und sie deswegen in der Schule lernen ließen, anstatt ihr früh eine Lehrstelle zu besorgen, wie es andere taten im Ort.
Aber die junge Frau merkt: je mehr sie sich an Bildung aneignet, umso fremder wird sie den Eltern, insbesondere dem Vater, weil sie eine andere Sprache sprechen. So wird sie zu ihrem eigenen Wohle dazu erzogen, nicht mehr „dort“ dazuzugehören, ist bald überzeugt davon, dass „seine Wörter und Gedanken auf den roten Samtsofas“ der Schulfreundinnen nichts mehr wert sind. Dies führt zu Konflikten im Alltag, in denen der Vater der Tochter verbal unterlegen ist:
„Beim Essen brach wegen jeder Kleinigkeit Streit aus. Ich glaubte immer Recht zu haben, weil er nicht diskutieren konnte. Ich kommentierte, wie er aß oder sprach.“
Nun, Jahre später, ist er tot, liegt aufgebahrt in seinem Bett. Sein Kampf ist zu Ende. Denn zeitlebens war er darum bemüht, in eine anerkanntere Gesellschaftsschicht aufzusteigen, hat sich krumm gearbeitet, um kein einfacher Arbeiter mehr zu sein. Seiner Tochter ermöglicht er die Bildung, die er selbst nicht hatte – obwohl sich sein Kind mit jedem neu erworbenen Wissen mehr und mehr von ihm entfernt.
Sie selbst beschreibt ihren Bewusstseinszustand als ambivalenten, in die alte Welt gehört sie nicht mehr, betrachtet sie mit den Augen einer verbeamteten Lehrerin. In der neuen, akademischen Welt meint sie trotzdem in manchen Momenten immer noch, „da“ gar nicht hingehören zu dürfen. „Wut und Scham“ vermischen sich in ihr noch nach der Zeremonie der Verbeamtung, wie damals, als sie in einem Schulferienlager als Betreuerin Entscheidungsfreiheit schnuppern durfte und sie sich nach dem Eintreffen ihrer provinziellen Eltern plötzlich nicht mehr vorstellen kann, einmal auf die Universität gehen zu dürfen.
Die Scham des Vaters wiederum macht ihn einerseits zu einem Menschen voller Antrieb und der Überzeugung, durch Fleiß und Redlichkeit ein besseres, leichteres, bequemeres Leben führen zu können. Er eröffnet einen eigenen Krämerladen, wird Kleinunternehmer. Andererseits kann er seine Sprache und damit sein ganzes Auftreten, seine eigene Sozialisation nicht einfach ablegen. Auch mit dem besten Sonntagsanzug rutschen ihm Worte heraus, die in Akademikerkreisen unbekannt sind oder gar nicht erst ausgesprochen werden. Schon die überhöflichen Bemühungen seinerseits, Besucher zu empfangen und sich dabei von der besten Seite zu zeigen, entlarven ihn als Arbeiter, der versucht, den gesellschaftlichen Makel zu überspielen.
Mit ihrer besonderen Art autobiografisch zu schreiben, inspiriert Annie Ernaux Autoren wie den Soziologen Didier Eribon (Rückkehr nach Reimes) oder literarische Youngster wie Edouard Louis (Das Ende von Eddy), nicht zuletzt, weil beide – wie Annie Ernaux – über ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu schreiben. In Deutschland wenig beachtet, wurde sie dem Publikum allerdings erst 2017 mit Die Jahre bekannt, nachdem sich die bereits genannten Autoren in ihren autobiografischen Bestsellern auf die Autorin bezogen. Das im März 2019 bei Suhrkamp erschienene schmale Bändchen Der Platz, ist bereits 1984 in Frankreich gedruckt und mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet worden.
Wie umgehen mit dem gefühlten Verrat? Weil Vater und Tochter keine gemeinsame Sprache miteinander haben, gibt es für die Tochter nur einen Ausweg. Sie muss über das Leben schreiben, das sie zurückgelassen hat, nicht zuletzt, weil sie das besonders gut kann, da sie beide „Sprachen“ kennt. Nachdem der Vater aufgebahrt vor ihr liegt, weiß sie, dass sie irgendwann den Versuch unternehmen wird, die hilflose Leere mit Worten zu füllen, um den Verrat an den eigenen Eltern besser verstehen zu können, das Leiden an ihm auszuhalten.
Das gelingt der Autorin in einer ungemein berührenden Sprache, obwohl ihr Ton ein sachlicher ist. Kurze, eindrückliche Sätze, von denen keiner überflüssig ist, machen die Gefühlsleben derjenigen Menschen intensiv nachvollziehbar, von denen man selten wirklich etwas erfährt, weil es dafür Autorinnen wie Annie Ernaux braucht und sie systembedingt immer noch selten zu finden sind.