Wenn verletzbare „Seelchen“ bei Amazon als Saisonarbeiterinnen anheuern, sieht das fast nach einem Selbstmordversuch aus. Aber nur fast. Denn: natürlich sind wir sensibel, doch hier nicht im zerstörerischen Sinne. „Wir“ sind in Heike Geißlers „Saisonarbeit“ (Spector books/Volte#2) die Leser/innen, die mit der Autorin die Erfahrung machen dürfen, bei Amazon in Leipzig Kisten zu packen. „Wir“ sind eine freischaffende Übersetzerin und Autorin, die dringend Geld benötigt, und deswegen ihre, von anderen konstatierte Verletzbarkeit für sich nutzt, weil „in Ihrer Verletzbarkeit etliche Möglichkeiten verborgen“ liegen. Ein gefühlter Mangel entwickelt eine Kraft, die auf besondere Weise den analytisch-emotionalen Blick auf gesellschaftliche Zustände richten kann und Dinge bemerkt und kommentiert, die seelenlose Menschen nicht im Traum entdecken würden. Dazu gehört auch grundsätzlich darüber nachzudenken, „warum es zuweilen wie Versagen wirkt, vom eigentlichen Job nicht leben zu können.“ Der Text gewährt uns Einblicke in einen abgegrenzten Mikrokosmos und verweist dabei gleichzeitig auf allgemeine Phänomene in der Arbeitswelt, die nicht nur uns „Seelchen“ etwas angehen.
Aber wie behält man als Leiharbeiter/in bei Amazon und ähnlichen Arbeitsfabriken seine Seele? Wie kann sich der textintegrierte Leser gegen die permanent anwesende Gefahr, in solchen Strukturen zu verschwinden, auflehnen? Nur durch konsequente Selbstreflexion über die neuen Erfahrungen, nur durch den rettenden Abstand zwischen ihm und der Struktur, die ihn droht zu absorbieren. Dabei spielt das Moment der Nichtzugehörigkeit in der Arbeitsgruppe eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Wunsch nach Zugehörigkeit anthropologisch stark ausgeprägt ist, kann Kritik an bestehenden Verhältnissen nur durch eine Form der entfremdeten Abgrenzung überhaupt erst formuliert werden. Die auktoriale Erzählerin bemerkt an einer Stelle ganz passend, wie schwer es „uns“ fällt, unsere Unzugehörigkeit einfach so zu akzeptieren, weil „hier alle bis ins Mark hinein dazugehören wollen, was hauptsächlich daran liegt, dass niemandem Zeit bleibt, andernorts dazuzugehören“. Die Arbeitsheimat ist hier dann eben zur Not auch Amazon – besser als arbeitslos auf dem Sofa zu vereinsamen.
„Wir“ werden also von nun an von der Ich-Erzählerin in die Fabrikhallen geschickt und erleben unsere neue Arbeit durch ihre psychologische Brille. Sie kommentiert für uns den täglichen Arbeitsablauf, stellt uns Schichtleiter vor, die uns wie ihre Kinder behandeln, oder einen Hubwarenfahrer, in den wir uns kurzzeitig verlieben, damit die Arbeit spannender wird. Wir sind von Anfang an die „Frau Professor“ für die Vorgesetzten, weil wir einen akademischen Abschluss haben und durch unsere berechtigten Einwände, die z.B. Arbeitsabläufe angehen, den von uns verlangten verdinglichten Status immer wieder unterlaufen. Eine Arbeiterin am Fließband hat keine Fragen zu stellen, die das Management betreffen. Und noch weniger hat sie die Berechtigung, sich über strukturelle Ungerechtigkeiten aufzuregen.
Aber „wir“ kennen und schätzen die Autorin Elfriede Jelinek, und nehmen ihre Aussage wörtlich:
„wer lebt, stört“
– und überlegen uns, wie so eine Störung des abgeschlossenen Systems, in das „wir“ hier geraten sind, aussehen könnte. Denn obwohl „wir“ nur eine niedere Packerin sind, verpacken „wir“ immerhin Bestellungen, die unversehrt beim Kunden eintreffen sollten…
Doch wie lange halten „wir“ die Saisonarbeit tatsächlich aus?
So lange bis das Konto gefüllt ist und der Leidensdruck stark genug wird, um uns zum Handeln zu zwingen. Denn auch das ist eine Möglichkeit, die uns „Seelchen“ offen steht. „Wir“ können spüren, wann der Zeitpunkt für unseren Abgang gekommen ist, weil „wir“ Körper und Geist noch wahrnehmen und Warnsignale frühzeitig erkennen. Überhaupt ist Handlungsbereitschaft eine kompromisslose Bedingung, die die Erzählerin an uns stellt bevor „wir“ die Bühne verlassen:
„Wir gehen nicht aus dem Buch, ohne dass Sie gehandelt haben werden.“
Und eine entscheidende Handlung wird bald nötig sein, wenn sich unser Hirn nicht längerfristig anfühlen soll wie ein aufgeweichter Kaugummi. Denn irgendwann kann auch die selbstreflexivste Mitarbeiterin nichts mehr gegen die quälenden Ermüdungserscheinungen tun, die Fließbandarbeiten über kurz oder lang erzeugen, um zu einer tödlichen Subjektauslöschungswaffe zu werden.
Politische Literatur ist in Deutschland selten geworden, da der schwierige Spagat zwischen literarischem Erzählen und politischen Inhalten unpopulär ist und selten gelingt. Entweder werden nette, angenehm lesbare Geschichten erzählt; oder geschwätzige politische Sachbücher publiziert, denen es an philosophischer Tiefe fehlt. Die Autorin Geißler balanciert meisterhaft zwischen den genannten Genres und erschafft durch die Integration des Lesers in den Text ein Gefühl der persönlichen Angesprochenheit, das zugleich irritiert. Durch die besondere, ungewöhnliche Erzählstrategie birgt er einen kollektiven Wiedererkennungswert für jede(n) geschädigte(n) Arbeitnehmer(in) ohne dabei ins Triviale abzurutschen. Vielmehr wird das Bewusstsein für Handlungsoptionen gestärkt, die auch so manchen (mittlerweile) bewegungsunfähigen Malocher doch noch animieren könnte, sich zur Wehr zu setzen…