Auch die Poetry-Slam-Szene ist eine Männerdomäne. Vielleicht liegt das insbesondere daran, dass es nicht reicht, gute Texte zu schreiben. Man sollte gleichzeitig SchauspielerIn sein, gerne im Rampenlicht stehen und seine verschriftlichten Gedanken mit einer gewissen Coolness präsentieren. Gegen fast ausschließlich männliche Konkurrenten und mit anderen Inhalten diese Pionierleistung zu wagen, braucht einen starken Willen und ein Selbstbewusstsein, das es gewohnt ist, als Einzelkämpfer in den Ring zu steigen. Vielleicht genügt auch eine Sozialisation, in der die Frauen der Familie schon früh ganz ohne Scheu die Männerstammtische in den Kneipen aufmischten. Frauen wie Mieze Medusa (Jahrgang 1975) ist es jedenfalls gelungen, die Spoken-Word-Bühne auch für weibliche Stimmen zu (er)öffnen. Als eine der Vorreiterinnen der Slammerinnenszene erhält sie in der Anthologie „Lautstärke ist weiblich“ an forderster „Front“ eine Bühne für ihren Beitrag. Dabei betont die Autorin Nora Gomringer, selbst erfolgreiche Dichterin und Performanzkünstlerin mit angenehm eindringlichem Sprachorgan in ihrem Vorwort:
„Laute Frauen sind bereichernd, denn faktisch betrachtet, ist die eine, sind die zwei, drei weiblichen Stimmen an einem Slamabend mit hauptsächlich männlicher Besetzung eine Wohltat. Ein anderes Timbre, ein anderes Tempo, nicht zu vergessen: andere Themen!“
Die Themen sind es, die regelrecht berauschen, weil sie die Dinge aus weiblicher Perspektive beleuchten, andere Wirklichkeiten aufzeigen. Sie gehen weit über private Befindlichkeiten hinaus, haben fast immer einen gesellschaftskritischen Anspruch. Mieze Medusa vermischt zum Beispiel persönliche Ängste, wie die Sorge um das fortschreitende Alter, mit politischen Ereignissen. In Cäsium 137. Oder: Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert, steht das halbe gelebte Leben dem bisher minimal abgebauten Cäsium 137 aus dem Reaktorunfall in Tschernobyl gespenstisch gegenüber. Die eigene Midlife-crises, der gefühlte Zerfall des Körpers, seine Endlichkeit, findet sein Bild in Fukushima:
„Doch Zeit ist relativ, nur der Zerfall ist sicher. Du isst vielleicht grad keinen Fisch, weil Fukushima dich an deine Endlichkeit erinnert. Ich hab ein Jahr lang im Zimmer gespielt, als Tschernobyl die Wolke in unsere Richtung trieb, und länger keine Pilze gegessen. Und neulich schlage ich im Pilzbuch nach, ob mich, was ich da in der Hand hab, tödlich krank macht, und fühle mich veranlasst, nachzudenken, wie lang das her ist mit dem Jod, dem Strontium und dem Big Bad Motherfucker Cäsium 137.“
Marie Sanders erzählt in Nachtschwärmer, einem Beitrag, der aufgrund seiner poetischen Kraft aus dem Sammelband herausragt, von der Schwierigkeit, „am Büfett des Lebens“ nicht zu verhungern. Gerade wenn man nicht zu denjenigen gehört, für die es selbstverständlich ist, sich die „Lachspaste immer zu dick“ aufzutragen. Wir irren orientierungslos durch die Dunkelheit, und verpassen den Augenblick, in dem für uns wirklich etwas sichtbar werden könnte in der Welt. Viel lieber ergreifen wir die Flucht:
„Wir sind Nachtschwärmer/breiten unsere Flügel aus/stehen an Haltestellen/nur um des Wartens willen/mit dem Glas zu viel in der Hand/Nachtschwärmer/schwirren eng um/Leuchtreklame zieht uns an/irren hilflos wie geblendet/wenn wirklich jemand kommt/ der uns mitnehmen will/wechseln wir die Straßenseite.“
In der Themenrubrik „Rufen“ verschieben sich die Ebenen. Die Metaebene wechselt hin zu konkreteren Ereignissen, klar ausgesprochenen Statements. Dafür bietet sich die Slamszene an, dafür ist sie gemacht, und wird gerade von jungem Publikum geschätzt. Sowohl Sarah Bosetti, als auch Svenja Gräfen nennen ihren Text schnörkellos Feminismus, beginnen beide damit, ihn aus der Sicht seiner KritikerInnen darzustellen, um wenige Sätze später Stellung zu beziehen. Sarah Bosetti „ist diese Feministin“, auch wenn sie wünschte, es gäbe den Feminismus nicht, weil sie Ismen nicht ausstehen kann. Ein anschauliches Beispiel erklärt ihr Unbehangen dem Begriff gegenüber und auch, warum sie zu den bekannteren Autorinnen des Sammelbandes gehört:
„Feminismus ist wie das Kondom, das man erst noch kaufen gehen muss, obwohl man schon nackt zusammen im Bett liegt: Ohne wärs einfacher, aber langfristig eben nur für den Mann.“
Bei Svenja Gräfen wird in einer Kneipe über den Begriff Feminismus diskutiert, nachdem ein „Männchen“ einen frauenverachtenden Vortrag hält. Der Text ist an skurriler Komik kaum zu überbieten, wirkt wie eine Traumsequenz, die allerdings die Lebenswirklichkeit vieler Frauen widerspiegelt. Das ist die erschreckende Realität, und es tut gut, manchmal auch über sie lachen zu können. Die Gefahr, die im aktuellen Verlauf der #MeToo – Debatte steckt, nämlich, dass Frauen als reine Opfer dargestellt werden, die sich nicht wehren können, wird in diesem Streitgespräch gebannt. Der ganze Kneipenraum halt wider von lauten, starken Frauen- und Männerstimmen, die zeigen, dass patriarchale Meinungen zwar existent sind, aber längst nicht mehr überall einen Resonanzboden finden.
Einen weiteren, großen Raum nehmen Themen ein, die um Rassismus kreisen. Eindrücklich beschreibt Nhi Le in Denk doch mal einer an die Kinder was es mit ihr macht, wenn sie erfährt, wie ihr kleiner Bruder auf dem Spielplatz von einem anderen Kind als „Fidschi“ beschimpft wird:
„Fidschi, ganz hart ausgesprochen, das T betont und den Rest mit reichlich Spucke ausgesprochen. Ein Wort, das ich schon ewig nicht mehr gehört hatte, aber auf dem Spielplatz genauso wehtat wie damals, als mich ein anderes Kind in der Schule so rief. Es ist der Begriff der Frauen, die so die Textilshop-Besitzer nennen. Es ist der Begriff, den die Leute rufen, während sie ihre Augen zu Schlitzen ziehen. Es ist ein sehr ostdeutscher Begriff.“
Slammerin Meral Ziegler macht in der Schweiz ähnliche Erfahrungen. Sie fragt sich daraufhin, warum sie keine Deutsche sein darf, aber trotzdem eine ist. Ein trauriges Paradoxon, das leider immer wieder von sogenannten Biodeutschen konstruiert wird:
„Neulich hatte ich einen Auftritt am Bodensee. Eine ältere Dame kam anschließend zu mir und sagte, dass es ihr gefallen habe. Wo ich geboren wäre. Berlin. Aha, aber wo käme ich ursprünglich her, wegen meines Namens.
‚Meral ist ein türkischer Name‘, entgegnete ich, und sie: ‚Ja, weil manche integrieren sich ja nie.‘
Die Realität ist so traurig. Wenn das Komplimente sind, was ist dann von dir übrig, du dreckiges Schland, du kümmerliche Schweiz.“
Fatima Moumouni zeigt in Hautfarben Kriege auf, die direkt auf der Haut ausgetragen werden und unter die Haut gehen. In Dialogform wird der Farbe Weiß nachgespürt, einer Farbe, die im Gegensatz zu allen anderen Farben eine selbstverständliche Daseinsberechtigung hat. Dabei gleicht dieses „Weiß“ in Wirklichkeit auf der Farbpalette einem „halbrohen Hähnchen“. Das Pseudoweiß muss sich keine Gedanken darüber machen, wie es aussieht. Es spielt weder beim Jobinterview noch bei der Polizeikontrolle eine Rolle. Nur in der Sonne denkt der/die Weißhäutige an seine/ihre Haut, weil sie verbrennen kann. Oder, fragt die Interviewerin:
„Hat deine Haut Angst vor Trump, Breitbart, Blocher, Köppel, den Rechten?
Nein?
Dann hast du die Weißheit wohl mit Löffeln gefressen. Oder sagen wir, sie wurde dir in die Wiege gelegt.“
Die darauffolgenden Rubriken „Kümmern“, „Bekennen“ und „Abstrahieren“ behandeln leichtere Kost. Was nicht bedeutet, dass der Leserin, dem Leser, nicht ab und an eine Träne die Wange hinunterkullert. Gerade im Bereich „Bekennen“, in dem es um die Liebe geht, können Herzen schwer, wie bei Theresa Hahl (Herzmaere), oder leicht, wie bei Katja Hofmann (Crazy Eyes) werden.
Der Sammelband ist eine schillernde Fundgrube, eröffnet neue Sichtweisen und beleuchtet altbekanntes originell. Einigen Slammerinnen würde ein Stimm- und Vortragstraining guttun, damit auch das Ohr gerne mithört. Poesie und Performanz gehören beim Slam zusammen – beides überzeugend zu können, das zeigen Beiträge im Internet, ist nicht immer selbstverständlich.