Tillie Olsen. Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur.
Unter welchen Umständen entsteht Literatur und was verhindert ihr Entstehen? Wann werden Werke sichtbar und wann bleiben sie unsichtbar, dürfen sich in der Öffentlichkeit kaum zeigen oder werden verschwiegen, d.h., übersehen?
Wie es um schreibende Mütter bestellt ist, das ist ein zentraler Themenkomplex, der in den Essays Eine von zwölf und Elf von zwölf – wer fehlt, ausführlich behandelt wird. Tillie Olsen, 1912 als russische Jüdin in den USA geboren, hatte selbst vier Kinder und wusste, wovon sie schrieb. Sie betont, dass die meisten ihrer Vorgängerinnen dem Schreiben zuliebe auf eine eigene Familie verzichteten. Wie ambivalent die zitierten Schriftstellerinnen auf das Thema „schreibende Mütter“ reagieren, wird durch unterschiedliche Zitate beleuchtet. Virginia Woolf sieht in ihrer Kinderlosigkeit zum Beispiel einen der Gründe für ihre Geisteskrankheit:
(…) und alle Teufel kamen zum Vorschein – haarige schwarze Teufel. 29 und unverheiratet zu sein – eine Versagerin – kinderlos – verrückt auch noch, keine Schriftstellerin. (…)
Doch das empfinden nicht alle Schriftstellerinnen so. Auf folgende, diskriminierende Bemerkung eines Literaten:
Ich kann Ihnen nur raten, dass Sie das Schreiben an den Nagel hängen, in den Süden zurückkehren und ein paar Kinder bekommen. (…) Die größte Frau ist nicht die, die das beste Buch geschrieben hat, sondern die mit den besten Kindern.
erwidert die Schriftstellerin Ellen Glasgow: Ich wollte Bücher schreiben, und ich verspürte nie auch nur den leisesten Wunsch nach Kindern.
Nach dem detaillierten, ersten Essay ähneln die Folgenden einer Zitatensammlung vorwiegend angloamerikanischer Schriftsteller:innen, die sich über die unterschiedlichsten Arten äußern, warum das eigene Schreiben in eine Sackgasse geraten ist. Besonders gefährdet sind, wie schon genannt, die schreibenden Frauen, weil sie oft niemanden finden, der ihr Schreiben fördert und ihnen den Rücken freihält, wie das andersherum bei vielen männlichen Kollegen der Fall ist. Das ist aber nur ein genannter Grund, nur eine der Spuren, die das Schweigen beleuchten sollen, dem die Autorin folgt. Dabei legt sie sozialpsychologische Tiefenschichten frei, die aufdecken, wie die Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert funktioniert hat. Sie geht durch diese Jahrhunderte hindurch, zitiert Sylvia Plath, Harriet Beecher Stowe, Virginia Woolf und ihre Gestalt des Engels, „der sich immer wieder zwischen mich und mein Papier drängte…. Denn Frauen sind in den Augen der Gesellschaft zunächst einmal sich um andere sorgende Engel, die den Haushalt erledigen und das Heim ihres Ehegatten wohlig einrichten.
Wie wirst du diese, dein Genie schwächenden Bilder los, die von Kindheit an ihren Stempel tief in deinen Körper graben, die dich quälen, weil auch Frauen schreiben MÜSSEN, es ihnen von Natur her aber abgesprochen wird? Heute ist das anders, sollte man meinen. Und dennoch hat sich die Schriftstellerin Julia Wolf nach Geburt ihres ersten Kindes davor gefürchtet, nicht mehr schreiben zu können. Im Vorwort des Essaybandes betont die zweifache Mutter ihre Angst davor, dass die Mutterschaft sie als Autorin auslöschen könnte, so dass sie kurz nach der Geburt ständig einen Stift in der Hand hielt, um dagegen anzuschreiben, der Welt das Gegenteil zu beweisen.
Die Lektüre der einzigartigen Essaysammlung ist herausfordernd, weil sie durch zahlreiche Aussagen von Autorinnen und Autoren unterfüttert wird, deren Wucht Knoten im Kopf verursachen (können). Doch diese Fülle an originalen, meist unbekannten Äußerungen, verfolgt einen Sinn: Es sind vor allem die verschwiegenen, erdrückten und vergessenen Stimmen, über die Olsen nicht nur schreibt, sondern die sie gleichzeitig performativ aus ihrer Literaturgruft ins kollektive Gedächtnis zurückholt. Sie erklingen in all ihrer Vielstimmigkeit, ihren unterschiedlichen Anliegen, Sorgen und Wünschen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie gehört werden sollten, weil sie uns allen etwas zu sagen haben, sie auf die Vergangenheit verweisen und dadurch Pathologien der Gegenwart zwischen den Geschlechtern beschreiben, die immer noch bestehen. Für die schreibenden Männer sei hier gesagt: Auch eure Sorgen und quälenden Erfahrungen mit der Kunst werden im Essayband repräsentiert. Herman Melville, Henry James oder natürlich Kafka litten temporär an ihrer kreativen Unfähigkeit. Eindrückliche Zitate belegen das. Der lästige Broterwerb, Sozialdruck, Konkurrenz unter Schriftstellern oder ein tiefer Zweifel am eigenen Können erzeugen diese Leiden. An erfolgreichen, männlichen Vorbildern hat es ihnen aber nie gefehlt, weil schreibende Männer lange vor den Frauen auf den Bühnen der Welt unterwegs waren. Sie konnten sich gegenseitig bestätigen und zuhören.
Schriftstellerinnen orientierten sich notgedrungen an männlichen Vorbildern, schickten ihnen hoffnungsvoll Texte mit Anschreiben versehen, die ihre Bewunderung über das Schaffen ihrer Meister enthalten, wie etwa Willa Cather (1876-1947) an Henry James. James antwortet ihr abweisend, dass er keine Romane aus den unschuldigen Händen junger Frauen lese. Cather wurde durch diese vernichtende Antwort ihres Meisters ausgelöscht, stirbt den Tod des verborgenen Schweigens. Sie schreibt zwar weiter, allerdings ohne anderen davon zu erzählen, an ihrer Kunst teilhaben zu lassen.
Das ist nur ein weiteres Beispiel der vielen Hindernisse, denen Frauen im Schreiben begegnen. Viele flüchten sich ins Verstummen, widmen sich der für sie vorgesehenen Hausarbeit, während sich in ihren Köpfen müde, kreativlose Leere ausbreitet. Doch Widerstand war auch im 19. Jahrhundert möglich. Beecher Stowe, Autorin von Onkel Toms Hütte zum Beispiel, begegnet den Widrigkeiten des weiblichen Alltags mit einer humorvollen Grundeinstellung. Stowe, Mutter zahlreicher Kinder, verfasste ihre Texte am Küchentisch, zwischen Backbrett, Rollholz, Mehl und Schweinefleisch. Aber es gab – zu ihrem Glück – ein Dienstmädchen. Denn auch die soziale Klasse, in die man hineingeboren wurde oder sich einheiratete, entschied oft darüber, wer Zeit zum Schreiben fand und wer nicht.
Die Schriftstellerin Tillie Olsen rang ihr ganzes Leben damit, Zeit, Muße aber vor allem Kreativität im richtigen Augenblick zu finden, um ins Schreiben zu kommen. Sie nannte sich selbst eine Überlebenskämpferin, die wie alle schreibenden Frauen gegen die Gefahr, unterdrückt zu werden, andichten. Ihr literarisches Werk ist schmal, doch das, was fertiggestellt und veröffentlich wurde, wie der soeben im Aufbau-Verlag übersetzte Erzählband Ich stehe hier und bügle, ist dem Schweigen entronnen und füllt eindrücklich eine der vielen Lücken am Kunsthimmel.
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