Emotionen auf ihren politischen Gehalt, z.B. hinsichtlich Demokratisierungsprozesse, zu überprüfen, wird in der Philosophie zunehmend praktiziert. Die Scham gilt dabei oft als destruktives Machtinstrument, das Individuum schwächend. Sie entsteht dann, wenn bestehende Normen einer Gesellschaft (vermeintlich) überschritten werden, das Individuum den Eindruck hat, sich zum Beispiel in Hinblick auf eine etablierte Rollenerwartung zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Auch im gleichnamigen Essay der Lyrikerin und Übersetzerin Lea Schneider, erschienen im Verlagshaus Berlin, fällt das Gefühl erst einmal durch unangenehme Erscheinungsmerkmale auf. Schlüsselszene bildet eine Lesung der Autorin aus ihrem ersten Lyrikband, aus dem sie Liebesgedichte liest, in denen es (auch) um die Autorin selbst geht. Der Kommentar eines Zuhörers Tja, sie ist halt eine Frau, beschämt die Autorin tief und führt dazu, dass sie jegliche Form der Selbstentblößung in den folgenden Jahren meidet und sich hinter „hochgradig komplexen“, hermetisch abgeschlossenen Gedichten versteckt. Sie erfährt am eigenen Leib, dass
Scham an Dingen und Menschen klebt (…). Scham, ist sie einmal da, breitet sich aus. Macht Flecken. Blut, Rotz, Schleim, Sperma, Speichel: Scham hängt an Körperflüssigkeiten. Und wie diese verhält sie sich auch.
Eine Komplizin der Scham ist in diesem Beispiel die Kategorie Gender. Der benannte Zuhörer reduziert auf abwertende Weise die dargebotene Kunst der Autorin auf ein klischeebeladenes Bild davon, wie Frauen „halt“ schreiben, nämlich gefühlsbetont.
Schneider plädiert nun aber nicht dafür, dieses „schleimige“ Gefühl loszuwerden, sondern, damit umzugehen, es „bewohnbar“ zu machen. Menschen sind verletzbare Wesen und durch die Scham wird deren Menschlichkeit sichtbar, so die Autorin. Scham entsteht in Situationen, in denen wir in den Wald voller Menschen hineinrufen, ohne eine Antwort zu erhalten. Resonanzlosigkeit löscht uns aus, macht uns Angst, weil wir das Gefühl bekommen, unsichtbar zu sein, peinlich, nichtig. Trotz dieser Gefahr, oder gerade aufgrund dieser Gefahr, sollten wir es immer wieder probieren, uns Gehör zu verschaffen. Denn nur wenn wir mutig Schamgefühle in Kauf nehmen, können wir als Individuen in der Welt, auf die Welt gerichtet, Stellung beziehen, Scham als Waffe einsetzen. Und was wäre überhaupt die Alternative? Die Alternative wäre zu verstummen, sich in sein „schleimiges“ Haus, das altbekannte Schneckenhaus, zurückzuziehen und die Augen zu schließen, sich selbst auszulöschen. Damit hätte die Scham als Machtinstrument absoluten Einfluss über die Menschen, weil sie sich vom Schweigen ernährt.
Lea Schneider fordert uns in ihrem brillanten Essay, in dem kein Satz überflüssig ist, dazu auf, Scham öffentlich zu verhandeln und uns nicht von ihr sprichwörtlich in Grund und Boden versenken zu lassen. Das Verfassen von Lyrik und sonstiger gesellschaftsrelevanter, entblößender Texte, funktioniert nicht ohne Scham. Stärker formuliert, ist es die Scham, die anzeigt, dass du dich herauswagst aus der gemütlichen Zone allgemein anerkannter Gesetze, sie zeigt die Grenzüberschreitung an, mit der eine Schreibende bei vollem Bewusstsein agiert:
Schreiben, wenn es in irgendeiner Form relevant sein soll, braucht die Scham als Kontrastflüssigkeit, als Messinstrument. Als Warnblinker, der einem anzeigt, dass man gerade ein Risiko eingeht – dass man gerade an etwas arbeitet, das nicht gleichgültig ist.
Eine Sprache zu erfinden, die sich für Scham interessiert, sie nicht ausschalten möchte, sondern sie als interessantes, weil menschliches Erkundungsobjekt betrachtet, ist ein Wunsch der Autorin, der (noch) im Bereich des Utopischen liegt.
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