Auf diesen Satz von Kurt Wolff einen neuen Anfang setzen. Nicht, dass ich prinzipiell etwas gegen Zahlen hätte. Nein. Sie spielen heutzutage nur eine zu große Rolle, nicht allein im Verlagsgeschäft. Die Zahlen müssen stimmen, an der „Wahrheit“ der Worte darf gezweifelt werden. Zahlen stehen fest, zeigen „Tatsachen“ auf, die in ihrer Unanfechtbarkeit eine Art beruhigenden Boden unter den Füßen darstellen. Da ist etwas, woran man sich halten kann, kein beunruhigendes „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) durchbricht das bestehende System. Warum auch? Für Beunruhigung sind die Worte zuständig, die uns in Sätze gefasst, immer wieder eine neue Sicht auf die Welt, mitten in ihr, geben.
Mein Blog soll eine Bühne für Sprache sein. DER Ort einer marginalisierten Spezies, der hier alle Redezeit der Welt eingeräumt wird. Denn die Auseinandersetzung mit (guter) Literatur braucht Zeit, an der es nach den Worten der Schriftstellerin Lili Grün bereits in den 1920-ern gefehlt hat. Sehnsuchtsvoll-scharfsinnig bemerkt sie in ihrem „Tagebuch“:
„Ich möchte so schrecklich gerne wissen, wie das früher war, als es nach Aussagen einiger maßgebender Persönlichkeiten noch Menschen gab, die Zeit hatten! Heute kenn‘ ich nur noch Leute, die mich furchtbar verachten würden, wenn ich es wagen würde, anzugeben, daß ich manchmal Zeit habe oder zumindest mir die Zeit suche, aus dem Fenster zu sehen und ein bißchen zu träumen, ziel- und planlos spazierenzugehen oder ähnlichen Unfug zu treiben. Ein Mensch, der nicht gehetzt, gejagt, übernervös und stets unausgeschlafen ist, hat keinen Chic, kein Format und keine Existenzberechtigung!“ (aus: Grün, Lili. Mädchenhimmel! Berlin, 2014. Aviva Verlag)
Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem oft nicht einmal mehr der kurze Reflexionsmoment bleibt, um sich darüber bewusst zu werden, dass es uns an Zeit mangelt. Eigentlich eine ganz gute Verlustverdrängungsstrategie, eine Entwicklung hin zum emotionslosen Arbeitstier. Wünsche nach einer anderen, früheren, besseren Zeit, wie sie Lili Grün geäußert hat, kommen auf diese Art erst gar nicht auf. Dabei sind Wünsche, die gerade im Reflexionsmoment, im Augenblick des ganz-bei-sich-Seins entstehen, so ungemein wichtig um ein eigenständiges Denken zu entwickeln. Vielleicht wäre der Holocaust verhindert worden, wenn sich Lili Grüns allgemeiner Wunsch nach mehr Gedankenzeit erfüllt hätte. Vielleicht hätte ihr gewaltsamer Tod im Konzentrationslager Maly Trostinec in Weißrussland niemals stattgefunden, weil ideologisch-mordende Massenbewegungen die Geister mit individuell entstandenen Einsichten nicht beeindrucken können.
Die bereits angekündigte „Bühne“ soll besonders denjenigen Stimmen in der Literatur ein Ort der Ausdrucksmöglichkeit sein, einen öffentlichen Raum für ihre eigene Performanz geben, die im literaturgeschichtlichen, historischen Gedächtnis aufgrund äußerer Umstände, politischer Verfolgung und Unterdrückung in Vergessenheit geraten sind. Sicher wird dabei die weibliche Stimme, das weibliche schreibende Subjekt eine besondere Rolle spielen. Achtung! Dies ist kein reiner Feminist/innenblog! Aber er hat, wie im Untertitel angekündigt, „Politik im Blick“. Und dazu gehört das weibliche, unterdrückte Schreiben ebenso untersucht, wie das männliche. Mit dem Unterschied, dass bei der Frau immer schon eine verschärfte Unterdrückung (Patriarchat, meint, soziale Rolle der Frau in der Familie+jeweilige Staatsform) stattgefunden hat. Nicht ohne Grund sind uns z.B. kaum Schriften schreibender Frauen aus der Antike oder dem Mittelalter bekannt. Dementsprechend gibt es Nachholbedarf beim Entdecken unbekannter Autorinnen, beim Ausgraben verschütteter Gedanken, die eine andere Sicht auf sozialpolitische Umstände geben. Ob der „Geist der Erkenntnis“ nach Hegel seine Stufen in einer Aufwärtsbewegung nimmt, oder immer wieder bis heute unweigerlich ins Stolpern gerät, sprich: unsere Welt wirklich eine bessere, „vernünftigere“ geworden ist, gilt es zu untersuchen. Auf Lili Grüns thematische Aktualität habe ich bereits verwiesen, ihr Wunsch nach mehr Zeit, und der Berechtigung, sich diese ohne Gesichtsverlust zu nehmen, ist ohne weiteres in unsere Gegenwart übertragbar. Ihre Sehnsucht nach einer Existenzberechtigung, ohne zugleich eine ökonomisch messbare „Leistung“ vorweisen zu müssen, weil der Mensch, mit Kant gesprochen, seinen Wert immer schon in sich selbst trägt, geht im Zahlenrausch unserer kapitalistischen Gesellschaft unter.
Aber Zahlen können ihre Anziehungskraft verlieren. Die Alternative zu ihnen muss nur stark genug aufleuchten. Denn schließlich sind wir alle Konsument/innen, und wenn das neue Angebot attraktiver erscheint als das alte, dann schlagen wir doch zu, oder? Vielleicht machen die vorgestellten literarischen „Schätze“ im Blog „Literatur(kritik) mit Politik im Blick“ dabei ganz beiläufig die unbekannte Epoche wieder lebendig in der Menschen noch Zeit hatten und lässt einen Daseinszustand aufscheinen, an den sich niemand wirklich erinnern kann. Solange er in der Phantasie einzelner besteht, gibt es jedenfalls die Möglichkeit, ihn in der Literatur herbeizuschreiben, um seinen fiktionalen, revolutionären Hauch von Freiheit zu spüren. Damit wir uns, plötzlich übermütig-mutig geworden, im Alltag von Zeit zu Zeit darin aufhalten.
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