Denken in Wunschräumen. Christine de Pizan und ihr Buch von der Stadt der Frauen.

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Die Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan (1364 in Venedig geboren), sitzt um 1405 in meditativer Einsamkeit in ihrem Studierzimmer, „umgeben von vielen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten“. Als ihr die hasserfüllte Schmähschrift über Frauen des damals anerkannten Autors Mateolus in die Hände fällt, gerät sie ins Grübeln über ihr eigenes Geschlecht. Wie konnte es sein, dass berühmte Philosophen, Dichter und Gelehrte, sich alle gleich schlecht über Frauen ausließen, sie als „lasterhaft“ bezeichneten, wo Christines Eindruck und der von ihr dazu befragten Frauen, ein ganz anderer war? Die Philosophin geht zunächst empirisch vor, diskutiert mit Fürstinnen und Frauen unterschiedlichster sozialer Schichten über die Aussagen der Gelehrten. Obwohl sie diesen widersprechen, kann sie es trotzdem nicht glauben, dass so kluge Männer unrecht haben könnten. Sie verzweifelt regelrecht am Widerspruch zwischen ihrem eigenen, positiven Urteil, das die moralische Integrität zahlreicher Frauen bestätigt und der vernichtenden Meinung der männlichen, akademischen Elite. Verzagt führt sie ein Zwiegespräch mit Gott, argumentiert folgendermaßen:

 „Ach, Gott, wie ist das überhaupt möglich? Denn wenn mich mein Glaube nicht trügt, dann darf ich doch annehmen, dass Du in Deiner grenzenlosen Weisheit und vollkommenen Güte nichts Unvollkommenes erschaffen hast. Aber hast du nicht selbst, und zwar auf eine ganz besondere Weise, die Frau erschaffen und sie dann mit all jenen Eigenschaften versehen, die Du ihr zu geben beliebtest? Es ist doch undenkbar, dass du auf irgendeinem Gebiet versagen solltest!“

Christine hadert zum Glück nicht lange allein mit sich und diesem Widerspruch. Sie bekommt Unterstützung von drei allegorisch zu verstehenden edlen Frauenfiguren, die ihre Tränen trocknen. Die drei Lichtgestalten bestätigen ihr, dass selbst die größten Philosophen manchmal „Ammenmärchen“ erzählen und sie deren Thesen bitte nicht alle als „Glaubensgrundsätze“ auslegen solle. Sie begründen ihre Meinung damit, dass selbst der heilige Kirchenvater Augustinus den großen Aristoteles korrigiert habe, es also üblich sei, das Denken anderer Kollegen infrage zu stellen. Frau Vernunft, Frau Rechtschaffenheit und Frau Gerechtigkeit ermutigen Christine empowernd, ihren eigenen Verstand zu bedienen und nicht einfältig jede Lüge zu glauben.

Nach diesem starken Intro fordert Frau Vernunft Christine auf, die Stadt der Frauen mit der Unterstützung der drei Erleuchteten zu erbauen. Den Mörtel steuert sie selbst bei, in Form von Erzählungen über tugendhafte Frauen. Darunter sind herausragende Kriegerinnen, Dichterinnen und Denkerinnen, die aus der griechischen Antike stammen. Da wird die kühne Amazonenkönigin Penthesileia genannt oder auch die Dichterin Sappho. Auch aus berühmten Erfinderinnen, wie beispielsweise Minerva, die das Eisen erfand, soll die Grundfestung der Stadt entstehen. Christine nimmt im Gespräch mit der jeweiligen Frau die Rolle der fragenden Philosophin ein, die Einwände erhebt, während die weisen Frauen geduldig antworten. Das erinnert stark an sokratische Gespräche, wo Christine sich skeptisch als die alles hinterfragende Schülerin inszeniert.

Frau Rechtschaffenheit betont in der zweiten, der dreiteiligen Abhandlung, dass nur kluge und rechtschaffene Frauen die Stadt bewohnen dürfen. Christine begibt sich mit ihr auf die Suche nach ihnen, erfährt prüfend von deren Taten. Frau Rechtschaffenheit beschreibt zum Beispiel das tugendhafte Leben der Prophetinnen, egal ob jüdisch, christlich oder „heidnisch“. Sie kommen alle in den erbauten Schutzraum hinein. So auch die Königin von Saba oder die Seherin Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos.

Die These vieler Männer, dass Frauen in der Ehe nicht zu ertragen seien, wird durch Gegenbeispiele ad absurdum geführt, indem zahlreiche Geschichten über sich sorgende, treue und aufopferungsbereite Gattinnen erzählt wird. Es täte den Herren allerdings gut, wenn sie sich den Ratschlägen ihrer Frauen nicht zu oft widersetzten. Ihr Leben würde sich verlängern, auch dafür gibt es Beispiele. Christine wendet hier nachdenklich ein, dass ein Gelehrter folgendes gesagt habe:

„Hohe Frau, ich erinnere mich jedoch auch daran, dass der Philosoph Theophrast, von dem ich weiter oben gesprochen habe, behauptet, die Frauen hassten ihre Ehemänner, wenn diese vorgerückten Alters seien; außerdem liebten sie weder Wissenschaftler noch Gelehrte. Er verbreitet nämlich, das Studium der Bücher sei unvereinbar mit der Aufmerksamkeit, die man den Frauen im ehelichen Zusammenleben widmen müsse.“

Als Gegenbeispiel nennt Frau Rechtschaffenheit unter anderen die Tochter des Herrschers von Julius Cäsar, die ihren gebrechlichen Althelden Pompeius so treu liebte, dass sie vor Schock stirbt, als sie fälschlicherweise denkt, ihr Mann sei bei einer Tieropferung ums Leben gekommen.

Warum Pizans philosophische Utopie von der Stadt der Frauen auch heute noch eine erschreckende Aktualität besitzt, zeigt sich an dieser Frage, die sie an Frau Rechtschaffenheit stellt, besonders:

„Hohe Frau, ich glaube euch aufs Wort und bin überzeugt, dass es genügend schöne, gute und sittsame Frauen gibt, die sich sehr wohl vor den üblen Machenschaften der Verführer zu hüten wissen. Um so mehr betrübt und bekümmert es mich jedoch, die Männer so häufig behaupten zu hören, Frauen wollten vergewaltigt werden; aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Frauen an einer solchen Gemeinheit Gefallen finden sollen.“

Gerade wurde in einer aktuellen Studie bestätigt, dass jeder dritte Mann in Deutschland Gewalt gegen Frauen in Beziehungen akzeptabel findet. Hier wird zusätzlich absurderweise darüber diskutiert, ob Frauen Spaß an dieser Gewalt haben, der an ihrem eigenen Körper verübt wird. Fast ärgert man sich beim Lesen über die naiv klingende Frage von Christine und man möchte ihr sagen, dass sie doch bitte die „Spitzhacke ihres Verstandes“ noch etwas schärfen sollte, damit sie in Zukunft stärker an ihn glaubt.

Schutzräume werden mehr denn je gebraucht, doch Christine hatte nicht etwa Frauenhäuser im Blick, in denen die hilfebedürftigen Frauen temporär leben können, sondern es ging ihr um einen stabilen Aufenthaltsort, in dem sich die geballte Frauenpower sammeln und organisieren konnte. Denn Frauen besitzen sowohl Intellekt als auch körperliche Kräfte, die sich voll entfalten können, wenn sie alle solidarisch zusammenhalten und an ihre Macht glauben. Gleichzeitig muss im Blick behalten werden, dass die Philosophin sich diese Stadt als einen idealen Raum, ohne konkreten Wirklichkeitsanspruch, erdacht hat.  

Mithilfe der letzten Allegorie, Frau Gerechtigkeit, wird die Himmelskönigin Maria in die Stadt eingeführt, damit sie sie weise regiere. Ohne göttlichen Segen funktioniert im Spätmittelalter kein gerechtes Miteinander, die Reden der drei weisen Frauen gegen hate speech haben nur dann Bestand, wenn sie durch eine metaphysische Kraft als gut legitimiert werden. So kann die „Stadt der Frauen“ als „Zufluchts- und Trostraum“ für eine „feminine Elite“ bezeichnet werden, wie die Herausgeberin und Übersetzerin Margarethe Zimmermann betont. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Möglichkeitsraum und offen für jede tugendhafte Frau, die eine Bewohnerin werden möchte.

Pizans Werk ist ein tiefgründiger, frühfeministischer Klassiker der Weltliteratur, der die Leser:innen dabei mit viel Witz und differenzierter Klugheit in spätmittelalterliche Diskurse entführt, die durch männliches Denken durchdrungen sind. Die kritischen Fragen der Philosophin durchbrechen die diskriminierenden Muster darin, um neue Erkenntnisse zu liefern und ein feminines Gegenmodell zur männlichen Elite zu entwerfen. Dabei beschreibt sie nicht nur Formen von „toxischer“ Männlichkeit gegenüber den Frauen, sondern auch Formen, in denen „sanfte“ Männer gut handeln und die Frau als gleichberechtigte Partnerin akzeptieren. Vielleicht erkennen wir hier einen autobiografischen Verweis auf ihre glückliche Ehe mit ihrem früh verstorbenen Gatten Etienne du Castels. Auf jeden Fall hätte die differenzierte Denkerin große Themen nie einseitig betrachtet oder sich rein von ihren Gefühlen leiten lassen, wie es ihre spätmittelalterlichen Kollegen getan haben.

Kein Publikum zu haben ist eine Art Tod

Tillie Olsen. Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur.

Unter welchen Umständen entsteht Literatur und was verhindert ihr Entstehen? Wann werden Werke sichtbar und wann bleiben sie unsichtbar, dürfen sich in der Öffentlichkeit kaum zeigen oder werden verschwiegen, d.h., übersehen?

Wie es um schreibende Mütter bestellt ist, das ist ein zentraler Themenkomplex, der in den  Essays Eine von zwölf und Elf von zwölf – wer fehlt, ausführlich behandelt wird. Tillie Olsen, 1912 als russische Jüdin in den USA geboren, hatte selbst vier Kinder und wusste, wovon sie schrieb. Sie betont, dass die meisten ihrer Vorgängerinnen dem Schreiben zuliebe auf eine eigene Familie verzichteten. Wie ambivalent die zitierten Schriftstellerinnen auf das Thema „schreibende Mütter“ reagieren, wird durch unterschiedliche Zitate beleuchtet. Virginia Woolf sieht in ihrer Kinderlosigkeit zum Beispiel einen der Gründe für ihre Geisteskrankheit:

 (…) und alle Teufel kamen zum Vorschein – haarige schwarze Teufel. 29 und unverheiratet zu sein – eine Versagerin – kinderlos – verrückt auch noch, keine Schriftstellerin. (…)

Doch das empfinden nicht alle Schriftstellerinnen so. Auf folgende, diskriminierende Bemerkung eines Literaten:

Ich kann Ihnen nur raten, dass Sie das Schreiben an den Nagel hängen, in den Süden zurückkehren und ein paar Kinder bekommen. (…) Die größte Frau ist nicht die, die das beste Buch geschrieben hat, sondern die mit den besten Kindern.

erwidert die Schriftstellerin Ellen Glasgow: Ich wollte Bücher schreiben, und ich verspürte nie auch nur den leisesten Wunsch nach Kindern.

Nach dem detaillierten, ersten Essay ähneln die Folgenden einer Zitatensammlung vorwiegend angloamerikanischer Schriftsteller:innen, die sich über die unterschiedlichsten Arten äußern, warum das eigene Schreiben in eine Sackgasse geraten ist. Besonders gefährdet sind, wie schon genannt, die schreibenden Frauen, weil sie oft niemanden finden, der ihr Schreiben fördert und ihnen den Rücken freihält, wie das andersherum bei vielen männlichen Kollegen der Fall ist. Das ist aber nur ein genannter Grund, nur eine der Spuren, die das Schweigen beleuchten sollen, dem die Autorin folgt. Dabei legt sie sozialpsychologische Tiefenschichten frei, die aufdecken, wie die Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert funktioniert hat. Sie geht durch diese Jahrhunderte hindurch, zitiert Sylvia Plath, Harriet Beecher Stowe, Virginia Woolf und ihre Gestalt des Engels, „der sich immer wieder zwischen mich und mein Papier drängte…. Denn Frauen sind in den Augen der Gesellschaft zunächst einmal sich um andere sorgende Engel, die den Haushalt erledigen und das Heim ihres Ehegatten wohlig einrichten.

Wie wirst du diese, dein Genie schwächenden Bilder los, die von Kindheit an ihren Stempel tief in deinen Körper graben, die dich quälen, weil auch Frauen schreiben MÜSSEN, es ihnen von Natur her aber abgesprochen wird? Heute ist das anders, sollte man meinen. Und dennoch hat sich die Schriftstellerin Julia Wolf nach Geburt ihres ersten Kindes davor gefürchtet, nicht mehr schreiben zu können. Im Vorwort des Essaybandes betont die zweifache Mutter ihre Angst davor, dass die Mutterschaft sie als Autorin auslöschen könnte, so dass sie kurz nach der Geburt ständig einen Stift in der Hand hielt, um dagegen anzuschreiben, der Welt das Gegenteil zu beweisen.

Die Lektüre der einzigartigen Essaysammlung ist herausfordernd, weil sie durch zahlreiche Aussagen von Autorinnen und Autoren unterfüttert wird, deren Wucht Knoten im Kopf verursachen (können). Doch diese Fülle an originalen, meist unbekannten Äußerungen, verfolgt einen Sinn: Es sind vor allem die verschwiegenen, erdrückten und vergessenen Stimmen, über die Olsen nicht nur schreibt, sondern die sie gleichzeitig performativ aus ihrer Literaturgruft ins kollektive Gedächtnis zurückholt. Sie erklingen in all ihrer Vielstimmigkeit, ihren unterschiedlichen Anliegen, Sorgen und Wünschen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie gehört werden sollten, weil sie uns allen etwas zu sagen haben, sie auf die Vergangenheit verweisen und dadurch Pathologien der Gegenwart zwischen den Geschlechtern beschreiben, die immer noch bestehen. Für die schreibenden Männer sei hier gesagt: Auch eure Sorgen und quälenden Erfahrungen mit der Kunst werden im Essayband repräsentiert. Herman Melville, Henry James oder natürlich Kafka litten temporär an ihrer kreativen Unfähigkeit. Eindrückliche Zitate belegen das. Der lästige Broterwerb, Sozialdruck, Konkurrenz unter Schriftstellern oder ein tiefer Zweifel am eigenen Können erzeugen diese Leiden. An erfolgreichen, männlichen Vorbildern hat es ihnen aber nie gefehlt, weil schreibende Männer lange vor den Frauen auf den Bühnen der Welt unterwegs waren. Sie konnten sich gegenseitig bestätigen und zuhören.

Schriftstellerinnen orientierten sich notgedrungen an männlichen Vorbildern, schickten ihnen hoffnungsvoll Texte mit Anschreiben versehen, die ihre Bewunderung über das Schaffen ihrer Meister enthalten, wie etwa Willa Cather (1876-1947) an Henry James. James antwortet ihr abweisend, dass er keine Romane aus den unschuldigen Händen junger Frauen lese. Cather wurde durch diese vernichtende Antwort ihres Meisters ausgelöscht, stirbt den Tod des verborgenen Schweigens. Sie schreibt zwar weiter, allerdings ohne anderen davon zu erzählen, an ihrer Kunst teilhaben zu lassen.

Das ist nur ein weiteres Beispiel der vielen Hindernisse, denen Frauen im Schreiben begegnen. Viele flüchten sich ins Verstummen, widmen sich der für sie vorgesehenen Hausarbeit, während sich in ihren Köpfen müde, kreativlose Leere ausbreitet. Doch Widerstand war auch im 19. Jahrhundert möglich. Beecher Stowe, Autorin von Onkel Toms Hütte zum Beispiel, begegnet den Widrigkeiten des weiblichen Alltags mit einer humorvollen Grundeinstellung. Stowe, Mutter zahlreicher Kinder, verfasste ihre Texte am Küchentisch, zwischen Backbrett, Rollholz, Mehl und Schweinefleisch. Aber es gab – zu ihrem Glück – ein Dienstmädchen. Denn auch die soziale Klasse, in die man hineingeboren wurde oder sich einheiratete, entschied oft darüber, wer Zeit zum Schreiben fand und wer nicht.

Die Schriftstellerin Tillie Olsen rang ihr ganzes Leben damit, Zeit, Muße aber vor allem Kreativität im richtigen Augenblick zu finden, um ins Schreiben zu kommen. Sie nannte sich selbst eine Überlebenskämpferin, die wie alle schreibenden Frauen gegen die Gefahr, unterdrückt zu werden, andichten. Ihr literarisches Werk ist schmal, doch das, was fertiggestellt und veröffentlich wurde, wie der soeben im Aufbau-Verlag übersetzte Erzählband Ich stehe hier und bügle, ist dem Schweigen entronnen und füllt eindrücklich eine der vielen Lücken am Kunsthimmel.

Eine Art Warnblinker. Über die Emotion der Scham. Ein Essay von Lea Schneider.

Emotionen auf ihren politischen Gehalt, z.B. hinsichtlich Demokratisierungsprozesse, zu überprüfen, wird in der Philosophie zunehmend praktiziert. Die Scham gilt dabei oft als destruktives Machtinstrument, das Individuum schwächend. Sie entsteht dann, wenn bestehende Normen einer Gesellschaft (vermeintlich) überschritten werden, das Individuum den Eindruck hat, sich zum Beispiel in Hinblick auf eine etablierte Rollenerwartung zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Auch im gleichnamigen Essay der Lyrikerin und Übersetzerin Lea Schneider, erschienen im Verlagshaus Berlin, fällt das Gefühl erst einmal durch unangenehme Erscheinungsmerkmale auf. Schlüsselszene bildet eine Lesung der Autorin aus ihrem ersten Lyrikband, aus dem sie Liebesgedichte liest, in denen es (auch) um die Autorin selbst geht. Der Kommentar eines Zuhörers Tja, sie ist halt eine Frau, beschämt die Autorin tief und führt dazu, dass sie jegliche Form der Selbstentblößung in den folgenden Jahren meidet und sich hinter „hochgradig komplexen“, hermetisch abgeschlossenen Gedichten versteckt. Sie erfährt am eigenen Leib, dass

Scham an Dingen und Menschen klebt (…). Scham, ist sie einmal da, breitet sich aus. Macht Flecken. Blut, Rotz, Schleim, Sperma, Speichel: Scham hängt an Körperflüssigkeiten. Und wie diese verhält sie sich auch.

Eine Komplizin der Scham ist in diesem Beispiel die Kategorie Gender. Der benannte Zuhörer reduziert auf abwertende Weise die dargebotene Kunst der Autorin auf ein klischeebeladenes Bild davon, wie Frauen „halt“ schreiben, nämlich gefühlsbetont.

Schneider plädiert nun aber nicht dafür, dieses „schleimige“ Gefühl loszuwerden, sondern, damit umzugehen, es „bewohnbar“ zu machen. Menschen sind verletzbare Wesen und durch die Scham wird deren Menschlichkeit sichtbar, so die Autorin. Scham entsteht in Situationen, in denen wir in den Wald voller Menschen hineinrufen, ohne eine Antwort zu erhalten. Resonanzlosigkeit löscht uns aus, macht uns Angst, weil wir das Gefühl bekommen, unsichtbar zu sein, peinlich, nichtig. Trotz dieser Gefahr, oder gerade aufgrund dieser Gefahr, sollten wir es immer wieder probieren, uns Gehör zu verschaffen. Denn nur wenn wir mutig Schamgefühle in Kauf nehmen, können wir als Individuen in der Welt, auf die Welt gerichtet, Stellung beziehen, Scham als Waffe einsetzen. Und was wäre überhaupt die Alternative? Die Alternative wäre zu verstummen, sich in sein „schleimiges“ Haus, das altbekannte Schneckenhaus, zurückzuziehen und die Augen zu schließen, sich selbst auszulöschen. Damit hätte die Scham als Machtinstrument absoluten Einfluss über die Menschen, weil sie sich vom Schweigen ernährt.

Lea Schneider fordert uns in ihrem brillanten Essay, in dem kein Satz überflüssig ist, dazu auf, Scham öffentlich zu verhandeln und uns nicht von ihr sprichwörtlich in Grund und Boden versenken zu lassen. Das Verfassen von Lyrik und sonstiger gesellschaftsrelevanter, entblößender Texte, funktioniert nicht ohne Scham. Stärker formuliert, ist es die Scham, die anzeigt, dass du dich herauswagst aus der gemütlichen Zone allgemein anerkannter Gesetze, sie zeigt die Grenzüberschreitung an, mit der eine Schreibende bei vollem Bewusstsein agiert:

Schreiben, wenn es in irgendeiner Form relevant sein soll, braucht die Scham als Kontrastflüssigkeit, als Messinstrument. Als Warnblinker, der einem anzeigt, dass man gerade ein Risiko eingeht – dass man gerade an etwas arbeitet, das nicht gleichgültig ist.

Eine Sprache zu erfinden, die sich für Scham interessiert, sie nicht ausschalten möchte, sondern sie als interessantes, weil menschliches Erkundungsobjekt betrachtet, ist ein Wunsch der Autorin, der (noch) im Bereich des Utopischen liegt.

Nur noch Mängelexemplare. Chloé Delaume. Das synthetische Herz.

Adélaide hat das fade Eheleben satt. Sie möchte sich endlich einmal wieder frisch verlieben, von einem fremden Mann begehrt werden. Doch so einfach, wie sie sich das vorgestellt hat, wird es nach der Trennung nicht. Die meisten Männer sind vergeben oder haben keinen Blick für reifere Frauen Mitte vierzig. Nach erfolglosen Versuchen, einen passenden Partner zu finden, kauft sie sich eine Katze und tröstet sich mit ihren Freundinnen beim Klatsch und Tratsch im Kaffee. Das synthetische Herz der Autorin Chloé Delaume, wurde 2020 in Frankreich als feministische Neuerscheinung gefeiert, was nicht einleuchtet. Zumindest wenn man unter Feminismus eine starke Haltung gegenüber patriarchalen Unterdrückungsmechanismen versteht. Das Selbstwertgefühl der Protagonistin ist nämlich durchweg abhängig von der Anerkennung, die es durch Männerblicke erhält. Sehen diese durch ihren Körper hindurch, wird sie depressiv und verkriecht sich in ihre kleine, überteuerte Pariser Junggesellinnenwohnung.

Doch die Lektüre lohnt sich, weil der Roman von Seite zu Seite amüsanter wird. Das liegt u.a. an den schonungslosen Beschreibungen über die Verlagsszene, die immer noch patriarchal ist, das heißt, von autoritärer, männlicher Hand geführt wird. Adelaide ist eine der fleißigen Pressefrauen, die zu spuren hat. Und sie macht einen guten Job, weil sie weiß, wie sie Leute ansprechen muss. Sie besitzt das nötige psychologische Gespür dafür, andere für sich und die eigenen Ideen zu gewinnen. Satirisch aber schmerzlich realistisch wird dabei das Konkurrenzverhalten der Pressefrauen untereinander beschrieben. Adelaide nennt ihre härteste Konkurrentin nur die Rüsselviper, der sie Abführmittel in die Cola schüttet, um sie bei einer Fensehsendung außer Gefecht zu setzen. Beide wollen dem ihnen jeweils anvertrauten Autor die Chance auf den Prix Goncourt ermöglichen, nur eine kann gewinnen. Feministischer wäre es, die Pressefrauen würden sich gegen die Verlagsherren zusammenschließen, von denen die eigentliche Gefahr ausgeht: Gekündigt zu werden – wenn sie nicht gut genug funktionieren, ihre Titel nicht ausreichend bewerben. Frauen orientieren sich hier aber lieber an der Macht der Männer, versuchen ihnen zu gefallen und stechen mögliche Rivalinnen eiskalt aus. Auf der Strecke bleiben sie trotzdem oder gerade deswegen.

Bald ist Adelaide nicht nur ohne Liebe, sondern sieht sich gezwungen, zum Independent-Verlag Humpty-Dumpty zu wechseln. Auch weil sie keine Lust hat, wirtschaftlich vielversprechende aber langweilige Bücher mit Titeln wie Geschichte(n) unseres Käses zu bewerben. Auf ihr literarisches Niveau ist die Singledame stolz, darauf lässt sie nichts kommen. Die Frage, ob experimentelle Literatur in der aktuellen Verlagslandschaft zu Grabe getragen werden muss, weil sie niemand mehr verlegt, schwingt zwischen den Zeilen immer wieder mit, wird in der gewinnorientierten Arbeitswelt sichtbar.

Weniger selbstbewusst entwickelt sich ihre verweifelte Partnersuche, bei der bald das Motto gilt: Je hässlicher, umso potentiell liebenswerter. Doch da täuscht sie sich gewaltig und sie kommt mit ihren Freundinnen desillusioniert zur Erkenntnis, dass das, was noch auf dem Markt ist, aus Mängelexemplaren besteht; wobei doppeldeutig hier auch auf die mangelhafte Buchproduktion großer Konzerne angespielt wird.

Das synthetische Herz liest sich leicht, mit einem hohen Lustfaktor und beschreibt wie nebenbei Lebensentwürfe von Frauen, die sich keine eigene Familie wünschen, sondern jenseits der Norm nach Glück streben. Das ist dann doch ein feministischer Ansatz. Als eindeutig feministisch könnte der Roman bezeichnet werden, wenn die von der internationalen Presse gefeierte sisterhood unter den Freundinnen stärker wäre als die verzweifelte Suche nach einer passenden Partnerschaft. So ziehen sich die Freundinnen gegenseitig in den alkohol- und zigarettengeschwängerten, selbstmitleidigen Sumpf, bestätigen sich in ihrem gefühlten Opferstatus, statt ihre Egos empowernd aufzupolieren. Denn: Das Leben ist eine Zumutung – sich das gegenseitig immer wieder zu bestätigen, nutzt niemandem etwas.

Darauf bitte einen Gin-Tonic mit Zitrone!

Humor kennt kein Geschlecht. Frauen sind komisch. Kabarettistinnen im Porträt.

Im Vorwort ihrer beeindruckenden, im AvivA-Verlag erschienenen Kabarettistinnengeschichte, betont die Autorin Iris Schürmann-Mock, dass heute auch im Kabarett die Strukturen immer noch patriarchalisch seien. Das Aussehen z.B. bleibe ein wichtiges Auswahlkriterium, wenn Frau überhaupt wahrgenommen werden wolle. Die „Erotikhürde“ nennt das die mittlerweile zu neuem Bekanntheitsgrad aufgestiegene Komikerin Maren Kroymann, die von Schürmann-Mock in Frauen sind komisch ebenso porträtiert wird, wie weniger bekannte Künstlerinnen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts; etwa Marya Delvard. Die Zeit prägt dabei den Stil und immer sind ihr die Künstlerinnen mit ihrer politischen Botschaft ein Stück voraus, werden von ihr ins Exil verbannt, wie Erika Mann, oder (noch) als Anhängsel großer männlicher Künstler wahrgenommen, wie Liesl Karlstadt. Diese spielt viele Jahre im Duo mit ihrem Partner Carl Valentin, mit dem sie gleichberechtigt 1915 das Kabarett Wien-München leitet.  Sie hat einen großen Anteil am Programm, dennoch gilt Valentin als der „geniale Kopf“, sie selbst als „die Ausführende“. Carl Valentin ist bis heute im kulturellen Gedächtnis vertreten, an Liesl Karlstadt erinnern sich nur wenige.

Bei der Lektüre der Porträts fällt auf, dass die frühen Komikerinnen der 20er und später der 50er Jahre, oft von Männern entdeckt werden mussten. Ihnen kann zugute gerechnet werden, dass sie das komische Talent bei den Frauen entdeckten. So geht es auch der Schauspielerin Helen Vita, auf die Bertold Brecht aufmerksam wird, nachdem er sie in Zürich auf der Bühne seines Stücks Herr Puntila und sein Knecht Matti gesehen hat. Er rät ihr begeistert:

Machen Sie zwei Jahre lang Kabarett. Sie sind ein verkapptes komisches Talent.

Lachen ist nicht allein Männersache und so richtig diese Formulierung der Autorin ist, so deutlich wird in ihren Porträts, wie schwierig es für Kabarettistinnen ist, sich mit ihren eigenen Themen durchzusetzen. So muss sich die 1955 geborene Komikerin Gerburg Jahnke vom männlichen Publikum immer wieder anhören, ihre Texte seien nicht politisch. Das klassische, männliche Kabarett kann nicht akzeptieren, dass die Lebenswelt der Frau eine andere ist, als die privilegierte Welt des „Hausherrn“ der 50er Jahre. Jahnke beschreibt das Private als Teil des Politischen und betont:

Das alltägliche Frauenleben, das war unsere Politik.

Maren Kroymann war ihrer Zeit aus feministischer Perspektive jahrzehntelang voraus und wurde jetzt glücklicherweise von ihr eingeholt. So viel Durchhaltevermögen hat nicht jede. Zwar hatte sie als eine der wenigen Kabarettistinnen in den 80ern mit Nachtschwester Kroymann ihre eigene Satiresendung, trotz guter Quoten wurde sie 1987 nach fünf Jahren abgesetzt, weil die Themen, wie u.a. Sexismus am Arbeitsplatz, dem Sender als zu heikel erschienen.

Heute ist die über 70-Jährige mehrfache Grimme-Preisträgerin; ihre Sendung Kroymann wird seit 2017 im Ersten ausgestrahlt. Ein später Erfolg, mit dem die Künstlerin nicht mehr gerechnet hat.

Mit Carolin Kebekus enden die Porträts. Sie ist eine der hierzulande beliebtesten Künstlerinnen. Doch sie erntet nicht nur Anerkennung für ihre Gesellschaftskritik. Wer im Rampenlicht steht und seine Meinung sagt, muss sich wappnen gegen Anfeindungen und böse Kommentare vor allem aus den sozialen Netzwerken. Als „linksversiffte Nutte“ wird Kebekus beschimpft. Für ihre Kritik an Rassismus, Anti-Feminismus und nicht zuletzt an der katholischen Kirche, wird sie angefeindet. Doch Kebekus hat nichts gegen Shitstorms, sondern sie nutzt sie selbstbewusst, um ihre Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Junge Frauen, so erzählt sie stolz, sehen in ihr ein Vorbild, eine Stimme, die frauenfeindliche Einstellungen hinterfragt, die sich unter jungen Teenagern gerade wieder verfestigen.

Frauen sind komisch besticht durch seine Vielfalt unterschiedlichster Künstlerinnenwirklichkeiten, deren Lebensgeschichte Iris Schürmann-Mock spannend und berührend erzählt. Das Künstlerinnenleben in den 20er Jahren wird den Leser:innen ebenso nahegebracht, wie deren politischer Aktionismus gegen nationalsozialistische Propaganda oder frauenfeindliche Strukturen in der biederen Nachkriegszeit. Auch ostdeutsche Erfahrungen, wie die der „bekennenden Preußin“ Barbara Kuster, sind erfeulicherweise vertreten.

Ein Glossar zählt, mit knappen Erläuterungen, weitere sechzig Künstlerinnen aus hundertzwanzig Jahren auf. Mit dabei ist auch die politisch umstrittene „Kunstfigur“ Lisa Eckhart, die besser durch die leider nicht aufgeführte Idil Baydar, deren Eltern türkische Gastarbeiter sind, ersetzt worden wäre. Das deutsche, weibliche Kabarett ist inzwischen vielfältiger als wir denken und es sollten vor allem die Stimmen gegen Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit stark gemacht werden.

Weil Konformität tötet. Sich erinnern, man selbst zu sein. Paulina Czienskowski.

Was vom Titel her ein bisschen wie ein einfacher Lebensratgeber klingt, ist in Wahrheit anspruchsvolle, philosophische Lektüre, die in jedem guten Subjekttheorie- oder Phänomenologie-Seminar gelesen werden sollte. Sich erinnern, man selbst zu sein, verhandelt spielerisch die ganz großen Fragen des Lebens. Wer bin ich? Wer sind wir? Wie kann ich mein Ich im Wir behaupten, wenn ich doch immer Teil davon bin, ein Teil davon sein will?

In der Gegenwart anderer, so der Eindruck der Ich-Erzählerin, stellen Menschen Behauptungen über sich auf, und tun so, als seien sie wahr. Die Konsequenz ist, dass das Ich als Ich langsam verschwindet, unsichtbar wird. Schmerzen tut das nur, weil sich ein wie auch immer gearteter Kern meldet, der seine Existenzberechtigung einfordert:

Dieser scheiß Kern da vorne, er ruiniert mein Erscheinen. Wenn das da, diese Mitte, doch so wichtig ist, wieso verlieren sie dann so viele?

Die Antwort ist banal, es geht schlichtweg um die Selbsterhaltung: Das Ich kommt besser durchs Leben, wenn es nicht ständig auf seinen Kern pocht, an seinen Kern denkt, sich über seinen nicht genau festzulegenden Kern Gedanken macht. Doch die Protagonistin möchte sich nicht damit zufriedengeben, sich wie viele andere Mitmenschen damit anzufreunden nur noch unauthentisch, also umnachtet, durch die Welt zu spazieren. Regelrechte Wutausbrüche gegenüber den Einstellungen der anderen, denen, die es nur gut mit ihr meinen, zeugen im Text von der tatsächlichen Lebendigkeit der Suchenden. Anklagend formuliert sie dies so:

Und viele von euch schaffen es ja, so Larifari und ohne viel Arbeit da durchzukommen, durchs Leben, manövrieren sich über die Wege, die – wenn man ganz genau hinsehen würde – auf einem großen Fake basieren. Dem, niemals genau hingesehen zu haben.

Bleierne Müdigkeit überfällt die Ich-Erzählerin, die zwischenzeitlich von der blanken Natur bedroht wird, weil es keine eindeutigen Antworten auf all ihre Fragen gibt. Wären da nicht die nervigen Stimmen von Außen, dem WIR, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, über die sie sich immer wieder ärgert, wäre sie, alleingelassen mit ihrem Kern, im Eis eingebrochen. Und alles wäre gut? Nein! Denn nur Kern zu sein, führt sie auch nicht weiter. Es gut zu haben hieße, lauwarm vor sich hinzuköcheln. An den Kern kann Ich mich nämlich nur erinnern, wenn mir die anderen zurückspiegeln, wer ich nicht bin, aber sein soll(te). Diese gutgemeinten Ratschläge entfachen die Möglichkeit zum Widerstand gegen den Anspruch sich anzupassen, konform mit den anderen zu werden.

Der Versuch, sich selbst im Wir zu behaupten, lässt unterschiedlichste Emotionen in der Suchenden entstehen. Einsamkeit, Angst und Wut führen dazu, dass sie sich am liebsten in eine Grube versenken würde. Wo findet sie Geborgenheit, in dieser eiskalten Welt, in der ein uneindeutiges Ich unterdrückt werden muss, von den anderen nicht akzeptiert und als schwach angesehen wird? Doch genau diese ambivalenten Gefühle machen die Lebendigkeit des Menschen aus. Ohne die „Feinde“ im Kern, wäre er längst tot, hätte sich selbst verloren:

Ja, ja, ich will das doch genau so, alle Gefühle will ich haben, nicht stumm, nicht angepasst sein. Das weiß ich doch. Und alle von diesen Gefühlen sind LAUTER, aufregender als stille, langweilige Formen. Sie alle sollen sich in uns hineinwinden und sich über andere stülpen, wenn auch ein kleines bisschen anders. Aber egal, wir wollen doch was hinterlassen, wollen wer sein, nicht irgendwann gehen und niemand erinnert sich. Oder? Schau dich um, überall sieht man sie und schläft ein vor Konformität. Aber das sagtest du ja auch gerade.

Bunte, teilweise schrille Zeichnungen der Künstlerin Malwine Stauss unterstützen das Gefühlschaos der Protagonistin eindrucksvoll. Sie wirken wie Graffitis, die keine erklärenden Textstücke brauchen, weil sie für sich die jeweilige Botschaft transportieren. Zusätzlich unterstreichen sie die Hybridität des Textes, der zwischen Prosa und Drama angelegt ist, sich mutig nicht in einer Genre-Schublade verstauen lässt. Genauso wie das aufbegehrende Ich im Wir, das uns die Autorin präsentiert.

Die Lektüre kann einen ratlos und verzweifelt zurücklassen, weil sie keine Gebrauchsanweisung für ein authentischeres Leben liefert, sondern vielmehr die Komplexität der Kernfindung und seiner Behauptung vor Augen führt. Sie kann aber auch beruhigen, indem sie uns in unserem tagtäglichen, oft als irrational abgestempelten Unwohlsein darin bestätigt, dass es normal ist, sich fremd in seiner angepassten „Haut“ zu fühlen. Wir kennen diese Zustände alle, auch wenn sie oft nach außen hin für andere unsichtbar bleiben (sollen), weil wir naturgemäß gute Schauspieler*innen sind.

Wohltuend ist auch, dass sich dieses Ich mit dem Wir auseinandersetzt, obwohl das Stress und Ärger bedeutet. Heutzutage gibt es die Tendenz, sein Ich im Rückzug aus der äußerlichen Welt zu suchen, sich abzukapseln und den streitbaren Raum für Dialoge zu meiden. Das Ich in Sich erinnen, man selbst zu sein begreift die Suche nach „wahrer“ Kernfindung nur in der Konfrontation mit anderen. Rückzug dient alleine dazu, neue Kraft für die Auseinandersetzung zu schöpfen. Dies ist eine zutiefst politische Haltung, die die Autorin Paulina Czienskowski, deren Texte im Korbinian Verlag verlegt werden, überzeugend beschreibt.

Weibliche Bewusstseine. Adas Raum. Sharon Dodua Otoo.

Adas Raum ist unbegrenzt und bewegt sich in Schleifen von Handlungsstrang zu Handlungsstrang. Ada, das sind wir Frauen, egal ob schwarz oder weiß, egal, in welcher Kultur oder welchem Jahrhundert sozialisiert. Verbindend ist, dass unsere Körper gleichfalls (auch) Lebensräume sein können, wenn wir Mütter werden. Es sind Körper, die Leben ermöglichen, denen aber oft Gewalt angetan wird, weil patriarchale Schlachten auf ihnen ausgetragen werden. Oft wirken sie elementar auf historische Geschehnisse ein, und bleiben doch unerkannt, weil unterdrückt.

Nehmen wir das Jahr 1848. Hier wird Ada zur Computer-Pionierin, sieht voraus, dass die Menschheit eines Tages ins Weltall fliegen wird. Sie erläutert ihrem Liebhaber Charles (Dickens) ihre logischen Überlegungen dazu, er lacht über sie, weil er sich nicht vorstellen kann, dass ein simples Mädchen solche Ideen haben kann. Im gleichen Atemzug übernimmt er sie in seinen nächsten Roman mit der gönnerhaften Bemerkung, dass der Roman nach Ada benannt werde. 1848 bekommen Frauen (noch) keine Öffentlichkeit, in der ihr kreativer Geist gleichberechtigt zu dem des Mannes Anerkennung findet. Alles läuft nur über den Mann, das weibliche Leben ist an ihm ausgerichtet und endet durch seine Hand.

Auch die Ada, die 1945 als Zwangprostituierte im KZ Dora bei Nordhausen eine zeitlang überlebt, bekommt das Machtungleichgewicht am eigenen Leib zu spüren. Sharon Dodua Otoo beschreibt beklemmende Szenen in den Baracken, gibt verdinglichten Frauen eine Stimme, die in der ganzen Aufarbeitung des Holocausts kaum gehört wurde. Sie flicht Schleifen, schafft Bezüge, die zunächst einmal nicht auf der Hand liegen. Was hat der Holocaust z.B. mit der Kolonialisierung Ghanas zu tun? Man könnte meinen, der Roman sei zu konstruiert. Diesem Eindruck muss entgegengehalten werden, dass Ada als Zeitreisende, keine räumlichen, künstlichen Grenzen kennt. Alles gehört mit allem zusammen, so wie ein Kind niemals nur von einer einzigen „Mutter“ erzogen wird, sondern von vielen, von all denen, die sich um es kümmern, es beeinflussen. Phantastische Elemente haben eine zentrale Rolle bei der Narratologie des Textes und befreien ihn zusätzlich vom Vorwurf der Konstruktion: Das Eigenleben der Dinge. Reisigbesen, Türklopfer und Reisepass begleiten Ada durch die Jahrhunderte. Sie kommentieren ihr Verhalten, ihr Leiden, kreisen gleichzeitig wie Menschen um sich selbst. Sie sind bei ihr, legen Zeugnis ab über weibliche Schicksale, dessen Handlungsspielraum fatalerweise bis ins 21. Jahrhundert hinein ein begrenzter ist. Zuletzt befinden wir uns in Berlin. Der Wohnungsmarkt dort ist leergefegt, Ada hochschwanger und für die WohnungsbesitzerInnen vor allem schwarz:

In Ghana wurde Ada schleichend zur Frau und bekam es kaum mit. In Deutschland wurde Ada schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.

Die sprechenden und beobachtenden Gegenstände bringen eine wohltuende Komik in die manchmal bedrückende Handlung, verwirren bei der Lektüre, weil nicht sofort ersichtlich ist, wer oder was spricht. So ist Adas Raum eine Herausforderung für LeserInnen, die linear strukturierte Plots gewöhnt sind. Für diejenigen, die sich darauf einlassen, eröffnen sich Bewusstseinsbereiche, in denen Dinge zutage treten, von denen man überzeugt war, dass sie nichts miteinander zu tun haben.

Letzte SkeptikerInnen dieses Phänomens werden zuletzt durch die Erzählung über die Weltreise eines weiteren Gegenstands davon überzeugt. Es geht um ein kostbares Armband aus Afrika, das die Turbulenzen der historischen Geschichte überlebt und dessen Trip im Heute noch lange nicht zuende ist, weil es im Moment dort ist, wo es nicht hingehört.

Obwohl die Geschichte über das Armband nicht auserzählt wird, ergeben die übrigen gezogenen Schleifen zum Ende des Romans einen Kreis. Wo Ada am Anfang tote Babys betrauert, wird am Ende ein lebendes geboren, zwar auch unter Schmerzen, aber hoffnungsvollen. Der Roman Adas Raum wirkt nicht nur nach, weil er literarisch Grenzen überschreitet, die in der Gegenwart leider immer noch existieren, sondern auch, weil er weibliche Bewusstseine zum Erscheinen bringt. Starke, oft ungehörte Bewusstseine, ohne die Leben nicht möglich wäre.

Spiegel einer Gesellschaft. Marie-France Hirigoyen. Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren.

Die Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen kennt sie aus ihrer Praxis für Psychoanalyse: Personen mit einer pathologischen Narzissmusstörung. Meistens suchen allerdings deren Opfer Hilfe bei ihr, weil Narzissten selten auf die Idee kommen, dass sie krank sein könnten. Die Autorin beginnt ihre Ausführungen nicht mit einem theoretischen Überbau, sondern führt den Leserinnen und Lesern zunächst das Paradebeispiel eines toxischen Narzissten vor. Der noch amtierende US-Präsident Donald Trump erfüllt aus Sicht der klinischen Diagnose alle Kriterien. Neun sind es an der Zahl und die Autorin füllt jedes einzelne mit Beispielen aus Donald Trumps Verhalten. So bewegt er sich zum Beispiel ständig zwischen Emphase, Superlativ und Hyperbel. Wenn er seine Mitarbeiter vorstellt, benutzt er stets den Superlativ. Über den Chef von ExxonMobil, Rex Tillerson, den er im Februar 2017 zum Außenminister ernannte (und ein Jahr später feuerte), sagte er: ‚Er ist der größte, geschickteste Geschäftsmann der Erde, er ist unglaublich!‘ (Kriterium 2: Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe).

Selbst diejenigen, die Trump für einen gesunden Menschen halten, werden nach der Analyse der Autorin ins Grübeln geraten. Sie hat ihn über Jahre sehr genau beobachtet und formuliert bereits im ersten Kapitel eine wichtige These des Sachbuchs. Narzissten wie Trump schaffen es an die Macht, weil die heutige Gesellschaft eine narzisstische ist. All die Trumps, Putins und Bolsonaros sind hausgemacht in einer Welt, in der derjenige erfolgreich ist, der sich am besten verkaufen kann. Ich schreibe bewusst derjenige und nicht diejenige, weil das Krankheitsbild vorwiegend bei Männern vorkommt. Denn:

Männer tendieren eher als Frauen dazu, andere auszubeuten und auf gewisse Privilegien Anspruch zu erheben. Im Bereich des Führungsanspruchs zeigen Männer eine stärkere Selbstbehauptung und ein stärker ausgeprägtes Verlangen nach Macht als Frauen. Hingegen stellten die Wissenschaftler keinerlei geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Angeberei fest, woraus zu schließen ist, dass Eitelkeit und Selbstgefälligkeit kein Privileg der Männer ist. All diese Feststellungen können durch Stereotypen erklärt werden, die in der Kultur und der Erziehung verwurzelt sind.

Weiter analysiert die Autorin drei unterschiedliche narzisstische Pathologien. Den grandiosen Narzissten (Trump), die verletzlichen Narzissten (potentielle Amokläufer), die narzisstischen Perversen oder Psychopathen (Putin).

Natürlich sollte jeder Mensch einen gewissen Grad an Narzissmus (kurz: Selbstliebe) besitzen, sonst ist er nicht überlebensfähig. Ein gesunder Narzissmus ist aber immer auch erfüllt von Schamgefühlen und der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Doch wo verläuft nun genau die Grenze zwischen einem akzeptablen und einem pathologischen Narzissmus? Da beginnt die Autorin ungenau zu werden, flüchtet sich in klinische Studien, die keine messbare Klarheit bringen. Eindrücklich nacherzählte Fallbeispiele sind es, die verdeutlichen, welche Verhaltenweisen krankhaft sind und welche nicht.

Die Psychoanalytikerin betont, dass narzisstische Krankheiten zunehmen und begründet dies mit der Verhärtung der Arbeitswelt. Die in ihr tätigen Personen würden immer weniger in ihrer Besonderheit geachtet. Diese Annahme belegt sie durch Untersuchungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche. Differenziert beschreibt sie das aktuelle Verhalten der Narzissten in Unternehmen auf der Führungsebene, in der Wissenschaft oder Politik. Die Welt ist voller toxischer, mächtiger Männer, Tendenz steigend. Ihre Ausführungen sind nachvollziehbar und öffnen die Augen dafür, die Blender frühzeitig zu erkennen (gerade für PersonalerInnen im Unternehmen ist das hilfreich!). Denn sie sind oft gute Schauspieler, verkaufen sich smart, talentiert und empathisch – bis sie die Position erreicht haben, die sie erreichen möchten.

Schade ist, dass Hirigoyen ihr Versprechen, das im Untertitel des Buches angekündigt wird, nicht einlöst. Wie wir uns gegen Narzissten wehren, geht in der Hoffnung unter, die 80er und 90er Generation möge ein Problembewusstsein entwickeln. Sie meint sogar bei der heranwachsenden Jugend ein verändertes Konsumverhalten (!) zu erkennen, eine Art Rebellion gegen unser neoliberales Wirtschaftssystem, der Wurzel allen Übels. Das ist eine sehr optimistische Sichtweise und ein enttäuschendes Schlusskapitel für dieses ansonsten erhellende und klug verfasste Sachbuch.

Sich immer überhaupt nicht kennen. Deniz Utlu. Gegen Morgen.

Das verflixte 30ste Lebensjahr. Schon Ingeborg Bachmann hat in der Erzählung Das dreißigste Jahr ihren Protagonisten hinunter ins Bodenlose stürzen lassen, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Kara, aus Deniz Utlus Roman Gegen Morgen, Wirtschaftswissenschaftler, verfällt in eine Existenzkrise, ausgerechnet während er über einem Forschungsprojekt sitzt, in dem er die Fixkosten des Lebens berechnen soll. Leben, oder wirklich zu leben, ist dabei zunächst eine Behauptung, die erst einmal durch Fakten und den passenden Formeln, bewiesen werden muss. Kara untersucht biografische Fakten, betrachtet alte Fotos, auf denen ihm seine langjährige Freundin und sein langjähriger Freund entgegengrinsen. Mit wütender Hartnäckigkeit bearbeitet sein Verstand diese eine Frage:

Was hat mich dieses Leben gekostet, wie hoch sind meine versunkenen Kosten? Die Kosten von dem, was ich für mein Leben halte?

Ganz ernstnehmen kann man die vom Ministerium bezahlte (!) Forschungsarbeit, die ein philosophisches Problem in allgemeingültige Formeln packen soll, nicht, aber das ist auch nicht der Anspruch des Romans. Vielmehr entwickelt sich an ihr der tiefgründige Erzählstrang, an dem entlang die Geschichte einer Freundschaft dreier junger Männer erzählt wird, an deren Echtheit genauso stark gezweifelt wird, wie an der Behauptung, Lebendigkeit objektiv messbar machen zu können. In diesem Leben, in dem die eigene Selbstoptimierung über dem Imperativ der Großzügigkeit steht, bleiben nichts als leere Herzen zurück, so formuliert Ramon kapitalismuskritisch. Ramon ist derjenige der drei Freunde, der sich nicht einfangen lässt vom System, der Erfahrungen macht, ohne einen vorher kalkulierten Zweck zu verfolgen.

Der Plot beginnt mit der Trennung Karas von seiner langjährigen Freundin Nadia, wegen unterschiedlicher Vorstellungen davon, wie es in der Beziehung weitergehen soll. Sollte eine Familie gegründet werden, ja oder nein? Kara strauchelt, will sich nicht festlegen, nicht das tun, was von einem Mann in den 30ern erwartet wird. Überschwemmt wird er von Erinnerungen, darin tauchen sein bester Freund Vince und eine seltsame Gestalt, Ramon genannt, immer wieder auf. Vince hat sich mittlerweile aufgegeben, sich den Wünschen seiner Freundin ergeben und verlässt die langjährige Wohngemeinschaft mit Kara. Glücklich ist auch er nicht, verzichtet auf das Wagnis, ein Leben anders zu leben, als die Gesellschaft es von ihm erwartet.

Aber wie umgeht man den Tod so vieler anderer Möglichkeiten, wenn man sich auf eine davon festlegt? Gar nicht, man sollte nur mit ihr wirklich zufrieden sein. Eine Familie zu gründen, wäre eine Möglichkeit, die naheliegende in Karas Alter. Doch genau das möchte er nicht, weil er den Tod an Lebendigkeit fürchtet, der mit dieser Entscheidung einhergehen könnte. So fällt Kara immer tiefer ins Bodenlose, beginnt, sich auf die Suche nach Ramon zu machen, der zeitlebens mit Mutter und Schwester in einer Berliner Plattenbausiedlung lebt, für den Rassismuserfahrungen und Armut Alltag sind. Ein rätselhafter und deswegen unglaublich spannender Charakter, Schlüsselfigur des beeindruckenden Romans. Zu Studienzeiten ist er bei Vince und Kara fast täglich in der Studenten-WG aufgetaucht und plötzlich abgetaucht, ohne dass die Freunde nach dem Grund fragen. In der Existenzkrise wird sich der Protagonist bewusst, dass er sich nie wirklich, trotz all der intensiven WG-Gespräche, für Ramon interessiert hat. Das zweite Kapitel wird nicht ohne Grund mit den Worten der Lyrikerin May Ayim eingeleitet: Wir kannten uns immer überhaupt nicht, heißt es dort. Das überhaupt nicht, diese zwei bedeutungsvollen Worte, möchte Kara nicht mehr teilnahmslos hinnehmen und er begibt sich auf die Suche nach dem Menschen, den er eigentlich erkennen müsste, weil er sich von den anderen unterscheidet, ein Außenseiter ist.

Ramon sucht das (wirkliche) Leben. Kara versucht es zu berechnen, ohne es gefunden zu haben. Beide Figuren sind in ihrer einsamen Widerständigkeit zwei Verlorene, finden und verlieren sich immer wieder. Für die beiden Freunde wäre es eine Horrorvorstellung, von den Menschen auf der Straße, die wie Duplikate aussehen, wie Bachmanns leblos-uneigentliche „Molls“, gefressen zu werden. Dagegen kämpfen sie an und nehmen das Gefühl der Bodenlosigkeit dafür in Kauf.

Gegen Morgen rührt mit seinen existenziellen Fragen tief in der menschlichen Seele, an dem, was von ihr (noch) übrig ist. Deniz Utlu hat ein Stück literarische Eigentlichkeit geschaffen, an der man sich als Lesende gerne festhält.

Unbefangen Bananen essen. Olivia Wenzel. 1000 Serpentinen Angst.

Schweissgebadet schrecke ich in einer der letzten Nächte auf. Ganz deutlich kann ich mich an meinen gerade erlebten Traum erinnern. Darin sitze ich, gefesselt auf einem Stuhl und umringt von Skinheads, die ich an ihren weißglänzenden Glatzköpfen erkenne, in einem höhlenartigen Raum. Die Skinheads sind gerade im Begriff einer anderen weiblichen Person, ebenfalls gefesselt, die Kehle durchzuschneiden. Ich weiß im Traum genau, dass ich als Nächstes an der Reihe bin – bevor das passiert – wache ich auf.

Sofort bringe ich den Traum mit meiner intensiven Lektüre des Romans 1000 Serpentinen Angst, der Dramatikerin Olivia Wenzel, in dem sie immer wieder Rassismuserfahrungen beschreibt, zusammen. Szenen spielen darin eine Rolle, in denen die schwarze Protagonistin von Rechtsradikalen angefeindet wird oder sich verstecken muss, damit das nicht passiert. Zum Beispiel an einem schönen Sommertag am Strausberger See bei Berlin, an dem sie plötzlich auftauchen:

Mein Freund und ich, wir sind ein Paar, aber kein glückliches; wir haben uns vor einer halben Stunde gestritten. Rechter Terror ist: Als die Nazis kommen, gehören wir wieder zusammen. Sie ziehen sich aus, so wie ich mir das bei Soldaten vorstelle, stramm und zackig. Sie falten ihre Kleidung, stehen aufrecht und steif da, an einem heißen Sommertag, nackt und selbstbewusst, schauen auf den Strausberger Badesee, als gehörte er ihnen. Rechter Terror ist: nicht über diese Steifheit lachen zu können aus Furcht, entdeckt zu werden.

Die Nazis registrieren ein schwarzes Kleinkind im Wasser und kommentieren das mit „Bäh, da war ja ein Neger im Wasser“. Kurz darauf quälen die Protagonistin Verwürfe, sich nicht bemerkbar gemacht zu haben, sondern erst im Auto auf der fluchtartigen Heimfahrt, die Polizei verständigt zu haben.

Warum sich diese Szene so stark einprägt, liegt nicht nur an ihrem Inhalt, sondern an der Form des Erzählens. Perfekt komponiert auch für die Bühne, hakt eine innere oder äußere Stimme nach und bringt die Protagonistin durch Kommentare oder Fragen dazu, über das Geschehene zu reflektieren. Die Figur wird dadurch vielschichtig beleuchtet, ist nicht nur Opfer, sondern fühlt sich auch als Täterin. Sich in so einer Extremsituation korrekt zu verhalten ist schwer, fast unmöglich.

Die Krise, eine Angststörung, scheint vorprogrammiert. Mit Mitte dreißig ist es soweit – die Protagonistin muss sich auf die Suche danach begeben, WER sie eigentlich ist, um nicht verrückt zu werden. Auf ihren Reisen nach Vietnam und in die USA, wird sie immer von der fragenden Stimme begleitet und von dem einen Satz: WO BIST DU JETZT? Eine Stimme, die sie herausfordert, bei der im ganzen Lektüreverlauf nicht deutlich wird, woher sie kommt. Manchmal ist sie provokant-nachbohrend, wie die einer Psychotherapeutin, manchmal fürsorglich, wie die einer besorgten Mutter. Immer hat sie den Effekt, dass die beschriebenen Erfahrungen noch einmal genauer durchdacht werden, auf einen intuitiv dahingesagten Spruch, der Widerspruch folgt. Denn Identität ist fluide, nicht zu fassen, entgleitet permanent, muss sich im Falle der Ich-Erzählerin erst recht als eine solche behaupten.

Wer ihr dabei hilft sich selbst ein stückweit näher zu kommen, das sind vor allem die Freunde, ist weniger die kaputte Familie. Ein roter Faden, ein Erzählimpuls, der immer wieder auftaucht, ist ihre große Liebe Kim. Sie ist die Person, auf die Verlass ist, auch wenn sie die Protagonistin, die ihr eigenes Herz zu Beginn des Romans als Automat aus Blech beschreibt, immer wieder enttäuscht.

In New York erlebt sie endlich was es heißt, das Gefühl zu haben, irgendwo wirklich dazuzugehören, nicht z.B. alleine durch die Hautfarbe Außenseiterin zu sein. Unter Afroamerikanerinnen traut sie sich zum ersten Mal, ohne Scheu eine Banane zu essen, mit verklärendem Blick sieht sie die USA zunächst als Paradies. Zum Ende des Romans heißt es dann nachdenklicher:

Diese warme Community schwarzer Menschen, hier in den USA, ist nur möglich, weil sie jahrhundertelang zum Überleben nötig war. Die Basis, auf der sich diese Menschen begegnen und bestärken, war und ist blutig, ungerecht, qualvoll. Du kannst dankbar sein, dass du willkommener Gast in dieser Gemeinschaft bist, eine Touristin dieser auf Schmerz gewachsenen Blackness. Du kannst froh sein, dass dein Herz hier nur temporär ein paar düstere Schläge imitiert.

Jede Krise hat, wenn sie erkannt und angegangen wird, sein Gutes. Je früher sie im eigenen Leben auftaucht, umso besser. Im Sumpf der eigenen Kindheit herumzutapsen, hier einer „schwarzen“ Kindheit mit traumatischer Ostvergangenheit der Mutter, transportiert aktuelle Wirklichkeiten, denen wir als Lesende gebannt folgen, auch weil sie (bis jetzt) Ausnahmeerscheinungen der deutschen Literatur sind, nicht weil es sie so selten gibt, diese Erfahrungen, sondern weil ihnen die Öffentlichkeit fehlt.

Der Text mischt die eigene Wahrnehmung auf, egal mit welcher Hautfarbe die Lesende geboren wurde. Bester Beweis dafür ist mein Traum, in dem die künstlichen Grenzen zwischen so etwas Banalem wie einer Hautfarbe verschwimmen, der Skinhead vielleicht allgemein für Diskriminierungserfahrungen steht. Denn es geht in 1000 Serpentinen Angst nicht nur um das Thema Rassismus und die persönlichen Erfahrungen der Protagonistin damit, sondern um viel mehr. Um nur ein Beispiel zu nennen etwa darum, was es bedeutet, ein „Ossi“ zu sein. Genauer, was es heißt, als Frau und Teenager in der DDR aufzuwachsen, mit all der Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitig nach 1989 mit dem umzugehen, „was der Westen nach dem Mauerfall mit dem Osten gemacht hat“, nämlich, sich zu bemühen „greifbare, positive Erinnerungen zu zerstören“.

Was bleibt da? Von DIR? Nicht viel, wenn du nicht beginnst, nach dir zu suchen. Vielleicht findest du ein Teil deines Ichs in einem so antiquierten Ding wie einem Snackautomaten, der an einem verlassenen Bahnhof steht. Die Protagonistin spielt mit dem Gedanken hineinzuschlüpfen – nachzugucken lohnt sich also allemal:

Es wäre das Beste gewesen, ich hätte in dem Automaten Unterschlupf gesucht, gleich als ich den Bahnsteig betrat. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich wäre sofort in diesen Automaten aus Blech eingezogen und hätte darin für ein paar Tage gewohnt. Hätte mich mit einer knisternden Folie aus Zellophan zugedeckt und gegessen, was mir in den Schoß gefallen wäre, hätte mir schließlich eine raschelnde Toilette gebastelt. Ich hätte Ruhe und Zeit gehabt, ich meine, ich liebe Ruhe und Zeit, und ich wäre in Sicherheit gewesen.

 

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