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Denken in Wunschräumen. Christine de Pizan und ihr Buch von der Stadt der Frauen.

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Die Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan (1364 in Venedig geboren), sitzt um 1405 in meditativer Einsamkeit in ihrem Studierzimmer, „umgeben von vielen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten“. Als ihr die hasserfüllte Schmähschrift über Frauen des damals anerkannten Autors Mateolus in die Hände fällt, gerät sie ins Grübeln über ihr eigenes Geschlecht. Wie konnte es sein, dass berühmte Philosophen, Dichter und Gelehrte, sich alle gleich schlecht über Frauen ausließen, sie als „lasterhaft“ bezeichneten, wo Christines Eindruck und der von ihr dazu befragten Frauen, ein ganz anderer war? Die Philosophin geht zunächst empirisch vor, diskutiert mit Fürstinnen und Frauen unterschiedlichster sozialer Schichten über die Aussagen der Gelehrten. Obwohl sie diesen widersprechen, kann sie es trotzdem nicht glauben, dass so kluge Männer unrecht haben könnten. Sie verzweifelt regelrecht am Widerspruch zwischen ihrem eigenen, positiven Urteil, das die moralische Integrität zahlreicher Frauen bestätigt und der vernichtenden Meinung der männlichen, akademischen Elite. Verzagt führt sie ein Zwiegespräch mit Gott, argumentiert folgendermaßen:

 „Ach, Gott, wie ist das überhaupt möglich? Denn wenn mich mein Glaube nicht trügt, dann darf ich doch annehmen, dass Du in Deiner grenzenlosen Weisheit und vollkommenen Güte nichts Unvollkommenes erschaffen hast. Aber hast du nicht selbst, und zwar auf eine ganz besondere Weise, die Frau erschaffen und sie dann mit all jenen Eigenschaften versehen, die Du ihr zu geben beliebtest? Es ist doch undenkbar, dass du auf irgendeinem Gebiet versagen solltest!“

Christine hadert zum Glück nicht lange allein mit sich und diesem Widerspruch. Sie bekommt Unterstützung von drei allegorisch zu verstehenden edlen Frauenfiguren, die ihre Tränen trocknen. Die drei Lichtgestalten bestätigen ihr, dass selbst die größten Philosophen manchmal „Ammenmärchen“ erzählen und sie deren Thesen bitte nicht alle als „Glaubensgrundsätze“ auslegen solle. Sie begründen ihre Meinung damit, dass selbst der heilige Kirchenvater Augustinus den großen Aristoteles korrigiert habe, es also üblich sei, das Denken anderer Kollegen infrage zu stellen. Frau Vernunft, Frau Rechtschaffenheit und Frau Gerechtigkeit ermutigen Christine empowernd, ihren eigenen Verstand zu bedienen und nicht einfältig jede Lüge zu glauben.

Nach diesem starken Intro fordert Frau Vernunft Christine auf, die Stadt der Frauen mit der Unterstützung der drei Erleuchteten zu erbauen. Den Mörtel steuert sie selbst bei, in Form von Erzählungen über tugendhafte Frauen. Darunter sind herausragende Kriegerinnen, Dichterinnen und Denkerinnen, die aus der griechischen Antike stammen. Da wird die kühne Amazonenkönigin Penthesileia genannt oder auch die Dichterin Sappho. Auch aus berühmten Erfinderinnen, wie beispielsweise Minerva, die das Eisen erfand, soll die Grundfestung der Stadt entstehen. Christine nimmt im Gespräch mit der jeweiligen Frau die Rolle der fragenden Philosophin ein, die Einwände erhebt, während die weisen Frauen geduldig antworten. Das erinnert stark an sokratische Gespräche, wo Christine sich skeptisch als die alles hinterfragende Schülerin inszeniert.

Frau Rechtschaffenheit betont in der zweiten, der dreiteiligen Abhandlung, dass nur kluge und rechtschaffene Frauen die Stadt bewohnen dürfen. Christine begibt sich mit ihr auf die Suche nach ihnen, erfährt prüfend von deren Taten. Frau Rechtschaffenheit beschreibt zum Beispiel das tugendhafte Leben der Prophetinnen, egal ob jüdisch, christlich oder „heidnisch“. Sie kommen alle in den erbauten Schutzraum hinein. So auch die Königin von Saba oder die Seherin Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos.

Die These vieler Männer, dass Frauen in der Ehe nicht zu ertragen seien, wird durch Gegenbeispiele ad absurdum geführt, indem zahlreiche Geschichten über sich sorgende, treue und aufopferungsbereite Gattinnen erzählt wird. Es täte den Herren allerdings gut, wenn sie sich den Ratschlägen ihrer Frauen nicht zu oft widersetzten. Ihr Leben würde sich verlängern, auch dafür gibt es Beispiele. Christine wendet hier nachdenklich ein, dass ein Gelehrter folgendes gesagt habe:

„Hohe Frau, ich erinnere mich jedoch auch daran, dass der Philosoph Theophrast, von dem ich weiter oben gesprochen habe, behauptet, die Frauen hassten ihre Ehemänner, wenn diese vorgerückten Alters seien; außerdem liebten sie weder Wissenschaftler noch Gelehrte. Er verbreitet nämlich, das Studium der Bücher sei unvereinbar mit der Aufmerksamkeit, die man den Frauen im ehelichen Zusammenleben widmen müsse.“

Als Gegenbeispiel nennt Frau Rechtschaffenheit unter anderen die Tochter des Herrschers von Julius Cäsar, die ihren gebrechlichen Althelden Pompeius so treu liebte, dass sie vor Schock stirbt, als sie fälschlicherweise denkt, ihr Mann sei bei einer Tieropferung ums Leben gekommen.

Warum Pizans philosophische Utopie von der Stadt der Frauen auch heute noch eine erschreckende Aktualität besitzt, zeigt sich an dieser Frage, die sie an Frau Rechtschaffenheit stellt, besonders:

„Hohe Frau, ich glaube euch aufs Wort und bin überzeugt, dass es genügend schöne, gute und sittsame Frauen gibt, die sich sehr wohl vor den üblen Machenschaften der Verführer zu hüten wissen. Um so mehr betrübt und bekümmert es mich jedoch, die Männer so häufig behaupten zu hören, Frauen wollten vergewaltigt werden; aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Frauen an einer solchen Gemeinheit Gefallen finden sollen.“

Gerade wurde in einer aktuellen Studie bestätigt, dass jeder dritte Mann in Deutschland Gewalt gegen Frauen in Beziehungen akzeptabel findet. Hier wird zusätzlich absurderweise darüber diskutiert, ob Frauen Spaß an dieser Gewalt haben, der an ihrem eigenen Körper verübt wird. Fast ärgert man sich beim Lesen über die naiv klingende Frage von Christine und man möchte ihr sagen, dass sie doch bitte die „Spitzhacke ihres Verstandes“ noch etwas schärfen sollte, damit sie in Zukunft stärker an ihn glaubt.

Schutzräume werden mehr denn je gebraucht, doch Christine hatte nicht etwa Frauenhäuser im Blick, in denen die hilfebedürftigen Frauen temporär leben können, sondern es ging ihr um einen stabilen Aufenthaltsort, in dem sich die geballte Frauenpower sammeln und organisieren konnte. Denn Frauen besitzen sowohl Intellekt als auch körperliche Kräfte, die sich voll entfalten können, wenn sie alle solidarisch zusammenhalten und an ihre Macht glauben. Gleichzeitig muss im Blick behalten werden, dass die Philosophin sich diese Stadt als einen idealen Raum, ohne konkreten Wirklichkeitsanspruch, erdacht hat.  

Mithilfe der letzten Allegorie, Frau Gerechtigkeit, wird die Himmelskönigin Maria in die Stadt eingeführt, damit sie sie weise regiere. Ohne göttlichen Segen funktioniert im Spätmittelalter kein gerechtes Miteinander, die Reden der drei weisen Frauen gegen hate speech haben nur dann Bestand, wenn sie durch eine metaphysische Kraft als gut legitimiert werden. So kann die „Stadt der Frauen“ als „Zufluchts- und Trostraum“ für eine „feminine Elite“ bezeichnet werden, wie die Herausgeberin und Übersetzerin Margarethe Zimmermann betont. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Möglichkeitsraum und offen für jede tugendhafte Frau, die eine Bewohnerin werden möchte.

Pizans Werk ist ein tiefgründiger, frühfeministischer Klassiker der Weltliteratur, der die Leser:innen dabei mit viel Witz und differenzierter Klugheit in spätmittelalterliche Diskurse entführt, die durch männliches Denken durchdrungen sind. Die kritischen Fragen der Philosophin durchbrechen die diskriminierenden Muster darin, um neue Erkenntnisse zu liefern und ein feminines Gegenmodell zur männlichen Elite zu entwerfen. Dabei beschreibt sie nicht nur Formen von „toxischer“ Männlichkeit gegenüber den Frauen, sondern auch Formen, in denen „sanfte“ Männer gut handeln und die Frau als gleichberechtigte Partnerin akzeptieren. Vielleicht erkennen wir hier einen autobiografischen Verweis auf ihre glückliche Ehe mit ihrem früh verstorbenen Gatten Etienne du Castels. Auf jeden Fall hätte die differenzierte Denkerin große Themen nie einseitig betrachtet oder sich rein von ihren Gefühlen leiten lassen, wie es ihre spätmittelalterlichen Kollegen getan haben.

Kein Publikum zu haben ist eine Art Tod

Tillie Olsen. Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur.

Unter welchen Umständen entsteht Literatur und was verhindert ihr Entstehen? Wann werden Werke sichtbar und wann bleiben sie unsichtbar, dürfen sich in der Öffentlichkeit kaum zeigen oder werden verschwiegen, d.h., übersehen?

Wie es um schreibende Mütter bestellt ist, das ist ein zentraler Themenkomplex, der in den  Essays Eine von zwölf und Elf von zwölf – wer fehlt, ausführlich behandelt wird. Tillie Olsen, 1912 als russische Jüdin in den USA geboren, hatte selbst vier Kinder und wusste, wovon sie schrieb. Sie betont, dass die meisten ihrer Vorgängerinnen dem Schreiben zuliebe auf eine eigene Familie verzichteten. Wie ambivalent die zitierten Schriftstellerinnen auf das Thema „schreibende Mütter“ reagieren, wird durch unterschiedliche Zitate beleuchtet. Virginia Woolf sieht in ihrer Kinderlosigkeit zum Beispiel einen der Gründe für ihre Geisteskrankheit:

 (…) und alle Teufel kamen zum Vorschein – haarige schwarze Teufel. 29 und unverheiratet zu sein – eine Versagerin – kinderlos – verrückt auch noch, keine Schriftstellerin. (…)

Doch das empfinden nicht alle Schriftstellerinnen so. Auf folgende, diskriminierende Bemerkung eines Literaten:

Ich kann Ihnen nur raten, dass Sie das Schreiben an den Nagel hängen, in den Süden zurückkehren und ein paar Kinder bekommen. (…) Die größte Frau ist nicht die, die das beste Buch geschrieben hat, sondern die mit den besten Kindern.

erwidert die Schriftstellerin Ellen Glasgow: Ich wollte Bücher schreiben, und ich verspürte nie auch nur den leisesten Wunsch nach Kindern.

Nach dem detaillierten, ersten Essay ähneln die Folgenden einer Zitatensammlung vorwiegend angloamerikanischer Schriftsteller:innen, die sich über die unterschiedlichsten Arten äußern, warum das eigene Schreiben in eine Sackgasse geraten ist. Besonders gefährdet sind, wie schon genannt, die schreibenden Frauen, weil sie oft niemanden finden, der ihr Schreiben fördert und ihnen den Rücken freihält, wie das andersherum bei vielen männlichen Kollegen der Fall ist. Das ist aber nur ein genannter Grund, nur eine der Spuren, die das Schweigen beleuchten sollen, dem die Autorin folgt. Dabei legt sie sozialpsychologische Tiefenschichten frei, die aufdecken, wie die Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert funktioniert hat. Sie geht durch diese Jahrhunderte hindurch, zitiert Sylvia Plath, Harriet Beecher Stowe, Virginia Woolf und ihre Gestalt des Engels, „der sich immer wieder zwischen mich und mein Papier drängte…. Denn Frauen sind in den Augen der Gesellschaft zunächst einmal sich um andere sorgende Engel, die den Haushalt erledigen und das Heim ihres Ehegatten wohlig einrichten.

Wie wirst du diese, dein Genie schwächenden Bilder los, die von Kindheit an ihren Stempel tief in deinen Körper graben, die dich quälen, weil auch Frauen schreiben MÜSSEN, es ihnen von Natur her aber abgesprochen wird? Heute ist das anders, sollte man meinen. Und dennoch hat sich die Schriftstellerin Julia Wolf nach Geburt ihres ersten Kindes davor gefürchtet, nicht mehr schreiben zu können. Im Vorwort des Essaybandes betont die zweifache Mutter ihre Angst davor, dass die Mutterschaft sie als Autorin auslöschen könnte, so dass sie kurz nach der Geburt ständig einen Stift in der Hand hielt, um dagegen anzuschreiben, der Welt das Gegenteil zu beweisen.

Die Lektüre der einzigartigen Essaysammlung ist herausfordernd, weil sie durch zahlreiche Aussagen von Autorinnen und Autoren unterfüttert wird, deren Wucht Knoten im Kopf verursachen (können). Doch diese Fülle an originalen, meist unbekannten Äußerungen, verfolgt einen Sinn: Es sind vor allem die verschwiegenen, erdrückten und vergessenen Stimmen, über die Olsen nicht nur schreibt, sondern die sie gleichzeitig performativ aus ihrer Literaturgruft ins kollektive Gedächtnis zurückholt. Sie erklingen in all ihrer Vielstimmigkeit, ihren unterschiedlichen Anliegen, Sorgen und Wünschen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie gehört werden sollten, weil sie uns allen etwas zu sagen haben, sie auf die Vergangenheit verweisen und dadurch Pathologien der Gegenwart zwischen den Geschlechtern beschreiben, die immer noch bestehen. Für die schreibenden Männer sei hier gesagt: Auch eure Sorgen und quälenden Erfahrungen mit der Kunst werden im Essayband repräsentiert. Herman Melville, Henry James oder natürlich Kafka litten temporär an ihrer kreativen Unfähigkeit. Eindrückliche Zitate belegen das. Der lästige Broterwerb, Sozialdruck, Konkurrenz unter Schriftstellern oder ein tiefer Zweifel am eigenen Können erzeugen diese Leiden. An erfolgreichen, männlichen Vorbildern hat es ihnen aber nie gefehlt, weil schreibende Männer lange vor den Frauen auf den Bühnen der Welt unterwegs waren. Sie konnten sich gegenseitig bestätigen und zuhören.

Schriftstellerinnen orientierten sich notgedrungen an männlichen Vorbildern, schickten ihnen hoffnungsvoll Texte mit Anschreiben versehen, die ihre Bewunderung über das Schaffen ihrer Meister enthalten, wie etwa Willa Cather (1876-1947) an Henry James. James antwortet ihr abweisend, dass er keine Romane aus den unschuldigen Händen junger Frauen lese. Cather wurde durch diese vernichtende Antwort ihres Meisters ausgelöscht, stirbt den Tod des verborgenen Schweigens. Sie schreibt zwar weiter, allerdings ohne anderen davon zu erzählen, an ihrer Kunst teilhaben zu lassen.

Das ist nur ein weiteres Beispiel der vielen Hindernisse, denen Frauen im Schreiben begegnen. Viele flüchten sich ins Verstummen, widmen sich der für sie vorgesehenen Hausarbeit, während sich in ihren Köpfen müde, kreativlose Leere ausbreitet. Doch Widerstand war auch im 19. Jahrhundert möglich. Beecher Stowe, Autorin von Onkel Toms Hütte zum Beispiel, begegnet den Widrigkeiten des weiblichen Alltags mit einer humorvollen Grundeinstellung. Stowe, Mutter zahlreicher Kinder, verfasste ihre Texte am Küchentisch, zwischen Backbrett, Rollholz, Mehl und Schweinefleisch. Aber es gab – zu ihrem Glück – ein Dienstmädchen. Denn auch die soziale Klasse, in die man hineingeboren wurde oder sich einheiratete, entschied oft darüber, wer Zeit zum Schreiben fand und wer nicht.

Die Schriftstellerin Tillie Olsen rang ihr ganzes Leben damit, Zeit, Muße aber vor allem Kreativität im richtigen Augenblick zu finden, um ins Schreiben zu kommen. Sie nannte sich selbst eine Überlebenskämpferin, die wie alle schreibenden Frauen gegen die Gefahr, unterdrückt zu werden, andichten. Ihr literarisches Werk ist schmal, doch das, was fertiggestellt und veröffentlich wurde, wie der soeben im Aufbau-Verlag übersetzte Erzählband Ich stehe hier und bügle, ist dem Schweigen entronnen und füllt eindrücklich eine der vielen Lücken am Kunsthimmel.

Nur noch Mängelexemplare. Chloé Delaume. Das synthetische Herz.

Adélaide hat das fade Eheleben satt. Sie möchte sich endlich einmal wieder frisch verlieben, von einem fremden Mann begehrt werden. Doch so einfach, wie sie sich das vorgestellt hat, wird es nach der Trennung nicht. Die meisten Männer sind vergeben oder haben keinen Blick für reifere Frauen Mitte vierzig. Nach erfolglosen Versuchen, einen passenden Partner zu finden, kauft sie sich eine Katze und tröstet sich mit ihren Freundinnen beim Klatsch und Tratsch im Kaffee. Das synthetische Herz der Autorin Chloé Delaume, wurde 2020 in Frankreich als feministische Neuerscheinung gefeiert, was nicht einleuchtet. Zumindest wenn man unter Feminismus eine starke Haltung gegenüber patriarchalen Unterdrückungsmechanismen versteht. Das Selbstwertgefühl der Protagonistin ist nämlich durchweg abhängig von der Anerkennung, die es durch Männerblicke erhält. Sehen diese durch ihren Körper hindurch, wird sie depressiv und verkriecht sich in ihre kleine, überteuerte Pariser Junggesellinnenwohnung.

Doch die Lektüre lohnt sich, weil der Roman von Seite zu Seite amüsanter wird. Das liegt u.a. an den schonungslosen Beschreibungen über die Verlagsszene, die immer noch patriarchal ist, das heißt, von autoritärer, männlicher Hand geführt wird. Adelaide ist eine der fleißigen Pressefrauen, die zu spuren hat. Und sie macht einen guten Job, weil sie weiß, wie sie Leute ansprechen muss. Sie besitzt das nötige psychologische Gespür dafür, andere für sich und die eigenen Ideen zu gewinnen. Satirisch aber schmerzlich realistisch wird dabei das Konkurrenzverhalten der Pressefrauen untereinander beschrieben. Adelaide nennt ihre härteste Konkurrentin nur die Rüsselviper, der sie Abführmittel in die Cola schüttet, um sie bei einer Fensehsendung außer Gefecht zu setzen. Beide wollen dem ihnen jeweils anvertrauten Autor die Chance auf den Prix Goncourt ermöglichen, nur eine kann gewinnen. Feministischer wäre es, die Pressefrauen würden sich gegen die Verlagsherren zusammenschließen, von denen die eigentliche Gefahr ausgeht: Gekündigt zu werden – wenn sie nicht gut genug funktionieren, ihre Titel nicht ausreichend bewerben. Frauen orientieren sich hier aber lieber an der Macht der Männer, versuchen ihnen zu gefallen und stechen mögliche Rivalinnen eiskalt aus. Auf der Strecke bleiben sie trotzdem oder gerade deswegen.

Bald ist Adelaide nicht nur ohne Liebe, sondern sieht sich gezwungen, zum Independent-Verlag Humpty-Dumpty zu wechseln. Auch weil sie keine Lust hat, wirtschaftlich vielversprechende aber langweilige Bücher mit Titeln wie Geschichte(n) unseres Käses zu bewerben. Auf ihr literarisches Niveau ist die Singledame stolz, darauf lässt sie nichts kommen. Die Frage, ob experimentelle Literatur in der aktuellen Verlagslandschaft zu Grabe getragen werden muss, weil sie niemand mehr verlegt, schwingt zwischen den Zeilen immer wieder mit, wird in der gewinnorientierten Arbeitswelt sichtbar.

Weniger selbstbewusst entwickelt sich ihre verweifelte Partnersuche, bei der bald das Motto gilt: Je hässlicher, umso potentiell liebenswerter. Doch da täuscht sie sich gewaltig und sie kommt mit ihren Freundinnen desillusioniert zur Erkenntnis, dass das, was noch auf dem Markt ist, aus Mängelexemplaren besteht; wobei doppeldeutig hier auch auf die mangelhafte Buchproduktion großer Konzerne angespielt wird.

Das synthetische Herz liest sich leicht, mit einem hohen Lustfaktor und beschreibt wie nebenbei Lebensentwürfe von Frauen, die sich keine eigene Familie wünschen, sondern jenseits der Norm nach Glück streben. Das ist dann doch ein feministischer Ansatz. Als eindeutig feministisch könnte der Roman bezeichnet werden, wenn die von der internationalen Presse gefeierte sisterhood unter den Freundinnen stärker wäre als die verzweifelte Suche nach einer passenden Partnerschaft. So ziehen sich die Freundinnen gegenseitig in den alkohol- und zigarettengeschwängerten, selbstmitleidigen Sumpf, bestätigen sich in ihrem gefühlten Opferstatus, statt ihre Egos empowernd aufzupolieren. Denn: Das Leben ist eine Zumutung – sich das gegenseitig immer wieder zu bestätigen, nutzt niemandem etwas.

Darauf bitte einen Gin-Tonic mit Zitrone!

Lili Grün: Ein Leben zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit

Im ersten Blogbeitrag hat sich die österreichisch-jüdische Schriftstellerin Lili Grün (1904-1942) bereits zu Wort gemeldet. Eine Stimme bei der es sich lohnt, eine längere Zeit zuzuhören. Exemplarisch möchte ich vier Gedichte von ihr vorstellen, die thematisch die Bereiche (Arbeits-) Alltag, Liebe und Tod behandeln. Die Texte habe ich dem gerade neu erschienenen Band „Mädchenhimmel“ des Berliner AvivA-Verlages entnommen, in welchem es im Nachwort, verfasst von der Herausgeberin Anke Heimberg heisst, dass kein Nachlass der Autorin mehr existiere. Deswegen muss ich mich an Einzelveröffentlichungen der Autorin in Zeitungen aus den 20-er / 30-er Jahren halten; Texte, die der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entgehen konnten. Außer Gedichten und kurzen Erzählungen hat Lili Grün Romane geschrieben, die in diesem Blog nicht thematisiert werden. Das lyrische Ich im Gedicht „Notschrei einer allzu Braven“ hat mir beim Lesen direkt zugezwinkert, will heißen, der Text hat es geschafft – was bei dieser Form von Literatur nicht selbstverständlich ist – Kontakt aufzunehmen, ungefiltert zu mir zu sprechen:

Notschrei einer allzu Braven

Ach, ich geh mir selber auf die Nerven,

Weil ich gar so artig bin,

Und voll unentwegter Pflichterfüllung

Steck‘ ich stets in meiner Arbeit drin.

 

Niemals tu‘ ich einen Schritt vom Wege,

Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh‘

Meinen Mann ich, und die Leute sagen,

Daß man so was nur begeisternd finden kann.

 

Doch dies ew’ge Schulterklopfen

Find‘ ich unerträglich und gemein,

Und ich fleh‘ zum blauen Sommerhimmel:

Herrgott, laß mich einmal anders sein!

 

Laß mich tolle Kapriolen schlagen,

Laß mich lasterhafte Dinge sagen,

Laß mit angeklebten Wimpern

Meine Äuglein herzlos klimpern,

Laß mich faul auf meinem Diwan liegen

– Und in diesem Zeichen – Herrgott –

Laß mich siegen!

 

Niemand kann sich selbst entrinnen,

Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm –

Und die andern sind die Schlimmen –

– Wenn ich noch so neidisch bin!

 

Vielleicht ist es der „Notschrei“ nach dem  Anders-Sein, die kompromisslose Sehnsucht nach einem existentiellen Ausbruch aus der (eigenen) Identität, der aufhorchen lässt. Eine Identität, die aufgrund sozialer Prägungen entwickelt worden ist, und die das lyrische Ich performativ immer wieder selbst bestätigt. „Artig“ und „brav“ fügt sich das Ich, wie es sich für liebe „Mädchen“ gehört, in seine zugedachte, scheinbar feste Rolle. Angepasst und massentauglich geht es einer geregelten Arbeit nach und kann sich dabei nicht einmal über ein schulterklopfendes Lob von den Anderen freuen. Weil der Verblendungszusammenhang, mit Adorno gesprochen, eben nicht verblendend genug ist, um auch die Gefühle im Alltagsnebel zu ersticken. Die Emotionen melden sich in einer ruhigen, nachdenklichen Minute zu Wort (zum Glück!); Wut entlädt sich im kriegerischen Ausspruch: „Lass mich siegen!“. Es stellt sich die Frage, über wen das Ich eigentlich siegen möchte. Über seinen inneren, unüberwindbaren Schweinehund, sich endlich aus vorgegebenen Geschlechterstrukturen zu befreien, damit aus dem braven, angepassten Mädchen eine emanzipierte Frau wird? Eine Frau, die es sich leisten kann, mit „angeklebten Wimpern“ und trägem Gemüt auf dem häuslichen „Diwan“ einzuschlafen, dabei lasterhaft zu träumen, ohne sich gleich als schlechtes Frauenzimmer zu fühlen? Ein Sieg über tyrannische Normen wäre auch ein Sieg über bestehende politische Verhältnisse. Angepasstheit lässt das individuelle Subjekt in den Hintergrund treten, eine allgemeine Gleichheit ersetzt die einzigartige Vielfältigkeit des Einzelnen. In der letzten Strophe betont das Ich mit resignierendem Tonfall noch einmal die feststehende, unbewegliche Identität jeder einzelnen Person, schicksalergeben zieht es einen Trennungsstrich zwischen den „Braven“ und den „Schlimmen“ mit einer konsequent essentialistischen Haltung, die eine Veränderung des „Eigenen“ als Unmögliches begreift. Das Einzige was dem Ich bleibt, ist der Neid auf das machtvolle Andere um dabei immer wieder Gebete in den Himmel zu schicken, die nicht erhört werden, weil ein echter „Sieg“ nur durch den Ausbruch aus der eigenen passiven Haltung erreicht werden könnte.

Weiterführend soll nun ein Gedicht betrachtet werden, das das „brave Mädchen“ als „brave Arbeiterin“ in einem (bis heute) klassischen Frauenberuf, demjenigen der Stenotypistin, genauer charakterisiert:

 

Lied der Stenotypistin

Wir müssen den ganzen Tag tippen.

Mit brennenden Augen und schmerzendem Rücken

Bestätigen wir ihr Wertes vom Soundsovielten,

Das wir mit bestem Dank erhielten.

 

Wir haben nur eine Sehnsucht: auszurasten

Von des Tages ewigem Lärmen und Hasten,

Denn unser armes Hirn ist müd und leer,

Wir haben keine bessere Sehnsucht mehr.

 

Unsere großen, mutigen Gedanken

Sind gestorben in des Alltags Schranken,

Unserer Herzen große Zärtlichkeit

Ist gestorben in des Alltags Leid.

 

Auch wir würden verstehn,

Kostbare Kleider zu tragen,

Auch wir würden verstehn,

Zärtliche Worte zu sagen.

 

Doch wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen,

daß wir uns hiermit beeilen,

Ihnen das gewünschte Offert vorzulegen,

Um mit Ihrem Vertreter nochmalige Rücksprache zu pflegen…

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach der großen Leidenschaft,

Doch das kommt ja nicht in Frage,

Denn wir sind: eine perfekte Kraft.

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach kindischen Freuden, dumm und toll,

Doch wir erwarten Ihr Geschätztes

Und zeichnen ergebenst hochachtungsvoll…

 

Das Pflichtbewusstsein einer „perfekten Kraft“ wird in diesem Gedicht immer wieder durch emotionale Ausbrüche infrage gestellt. Der permanente Wechsel zwischen objektivem Zwang und subjektiven Empfindungen macht deutlich, wie unausgeglichen das angepasste Subjekt sein Leben als Alltagstotgeburt fristet. Absorbiert von einem System, in dem eigene Wünsche und Hoffnungen keine Entfaltungsmöglichkeiten finden, versteckt sich das Ich hinter der vorgegebenen Rolle einer Sekretärin. Es fügt sich in die Erwartungshaltung anderer, um Teil des Arbeitswerkzeugs, der Schreibmaschine, zu werden. Was wir nach außen sind, haben wir auch nach innen hin zu sein. Wenn das nur so einfach wäre, wenn es dem Ich nur gelingen würde, seine Selbstreflexion über den eigenen Zustand ausschalten zu können. Aber nein. Immer wieder funken Emotionen der Sehnsucht und der Leidenschaft dazwischen, sträuben sich gegen den angestrebten Perfektionismus. Möchten raus aus dem Kasten um „kindische Freuden“ erleben zu dürfen. In der hier beschriebenen Arbeitswelt wird jeder mögliche Anspruch das Leben einer Anderen zu führen ausgeblendet. Es gibt für die arbeitende Frau in den 30-er Jahren nur diesen körperlich und seelisch harten Frauenberuf um sein eigenes Brot zu verdienen. Der Chef diktiert, die Stenotypistin tippt fleißig. Mit den Gedanken aber ist sie irgendwo über den Wolken. Lili Grüns manchmal naiv klingende Poetologie erfährt nicht nur in diesem Gedicht eine reflexionskritische Ebene, die besonders durch den ironisierenden Ton  erzeugt wird. Es könnte auch alles anders sein…wenn… die Erwerbsarbeit kein „müdes Hirn“ entstehen ließe und somit jegliche Formen der Sehnsüchte abtöten würde.

Etwas leichtfüßiger kommt das Gedicht „Elegie bei einer Tasse Mocca“ daher, das als Versuch, dem drögen Alltag durch Liebesfluchten zu entgehen, gelesen werden kann. Lili Grüns Sinn für Humor scheint hier unverkennbar auf:

 

Elegie bei einer Tasse Mocca

Mein letzter Freund war ein Jurist.

Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.

Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,

Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich

nervös.

Darum wünsch‘ ich mir zum nächsten Verehrer

Beispielsweise einen Volksschullehrer.

Ein Mann, der den ganzen Tag kleine Kinder unter-

richtet,

Muß doch, nebst Verstand und anderen Gaben,

So etwas wie eine Seele haben.

Und ich bin so scharf auf Seele!

 

Jedoch für Stimmung und Poesie

Wäre die einfachste Lösung ja die:

Man könnte einen Landpastor bekommen.

Aber die Leute sagen, es wird so schwer gehen,

Und ich muß ja selbst gestehen:

Durch meinen vergangenen Juristen

Habe ich so wenig Umgang mit Christen.

Und wenn man bedenkt, wie selten sich so ein Landpastor

Ins Romanische Café verirrt,

Muß man zugeben, daß es einigermaßen schwer sein

wird!

Der Ausruf: und ich bin so scharf (…) klingt ungemein vertraut in unseren Ohren. Man hat den Eindruck, da äußere sich gerade ein in den 90-ern geborener Teenager über seine Freundin, seinen Freund. Das Objekt „Seele“ ist dann schon eher veraltet. Ausgestorben ist der Begriff in seinem Gebrauch heutzutage geradezu. Seelenlosigkeit scheint mittlerweile eine gute Voraussetzung zu sein um auf dem freien Markt Erfolg zu haben. Die erfüllte Liebe wird beim lyrischen Ich eng an die Berufswahl einzelner (zukünftiger) Geliebter gekoppelt. Ein Jurist hat keine Seele, ein Lehrer könnte eine besitzen, wäre aber für eine aufstrebende Künstlerin mit kreativem Potential ein Stimmungentöter. Also doch der Landpastor? Hier stellt sich eine elementare Frage: Welche Wahl ist für eine Künstlerin die richtige, wenn ihr kreativer Freiraum in der Beziehung erhalten bleiben soll? Für „Stimmung und Poesie“ scheint der klassische Ernährer nicht der richtige Partner zu sein, aber eine starke Schulter klingt dennoch verlockend, weil da einer wäre, der das lästige Brot verdient. Die erfüllte Liebe wird als Utopie entlarvt, weil ein einzig mögliches Entweder-Oder, eine Frau die auf ihre Selbstbestimmung wert legt, niemals glücklich machen kann. Vielleicht wären zwei Männer etwas? Oder noch eine Frau zum Mann? Legen wir uns darauf fest, dass es ein Mensch mit Seele, d.h. mit einem ausgeprägt-feinfühligen Charakter sein sollte…

Der Tod wiederum gilt als erbarmungsloser Seelenfänger. Und genau diesen schwierigen Gesellen versucht das lyrische Ich im vierten Gedicht „Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn“ um den Finger zu wickeln:

 

Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn

Ach, glaube nicht, ich dächte, man könnte dich bestechen!

Was hätt‘ es für einen Sinn, gerad‘ mit dir über das Leben

zu sprechen.

 

Du ahnst ja nicht, wie schön es ist, von dieser Welt zu sein!

Es ist so schön, ins Kino zu gehn,

Um einen kitschigen Tonfilm zu sehen.

Schön ist es, im Gras zu liegen

Und zuzusehen, wie die Maikäfer fliegen,

Und es ist so lieb, wenn uns ein Mann in den Armen hält,

Und sein Mund, der uns küsst, ist die ganze Welt…

 

Ich weiß ja doch, daß es dich einmal gibt.

Drum, wenn du kommst, komm nicht als Feind!

Fall‘ mich nicht tückisch von rückwärts an,

Komm nicht als Unfall in der Eisenbahn,

Komm nicht als Räuber aus dem Hinterhalt,

Und vor allen Dingen: komm nicht zu bald.

 

Und wenn du kommst, leg deine kühle Hand

Zuerst auf den Verstand.

Denn ich will von dir nichts wissen.

Und mit dem Herzen geh‘ ein wenig freundlich um,

Mach es nicht bös!

Es war, solang es lebte, schon nervös!

Und es war immerzu verliebt.

Es fürchtet dich und deinen kalten Kuß,

Und es wird nie verstehn,

Daß es dich geben muß.

 

Der Versuch, den Gevatter Tod von den Qualitäten des Lebens erzählend zu überzeugen, ist paradox, weil er nun einmal dafür steht, genau dieses zu beenden. Trotzdem plädiert das Ich an dessen Humanität, zählt unermüdlich die sonnigen Seiten der Existenz auf und leistet Überzeugungsarbeit. Um wenige Zeilen später  einzuräumen, dass man sich wohl mit seinem Eintreffen, irgendwann, arrangieren müsse.

Aber „wie“ er sich nun die einzelne Seele holt, darüber wird man doch verhandeln dürfen? Die naive Kleinmädchenstimme klingt in diesem Gedicht noch einmal besonders eindringlich an, und mit Berücksichtigung der brutal-sinnlosen Ermordung Lili Grüns wenige Jahre später, wirkt der Text wie eine unheilvolle Vorausschau auf ihren eigenen Tod. Es ist immer problematisch, ausgehend von fiktionalen Texten, Bezüge zur Biographie der einzelnen Autor/innen herzustellen. In diesem Fall erscheint es schwierig, keine Todesahnung der Autorin hinein zu interpretieren, zumal Lili Grün zusätzlich zu ihrer politischen Gefährdetheit als Jüdin, an einer schweren Tuberkulose litt, die trotz Kuraufenthalte nicht austherapierbar war. Sie muss sich dementsprechend ihrer eigenen Sterblichkeit verstärkt bewusst gewesen sein, und obwohl die empfundene existenzielle Sinnlosigkeit im „Sein zum Tode“ im ersten Teil des Gedichts zunächst in ein „Sein zum Leben“ umgewandelt wird, bleibt die Gewissheit, dass alles Schöne zerstört werden wird. Warum das so sein muss, übersteigt den menschlichen Verstand.

Mit dem Tod lässt sich nicht flirten, egal wie charmant man zu ihm spricht. Nicht einmal weibliche Schüchternheit kann den „vermummten Herrn“ davon überzeugen, seine Verkleidung abzulegen und wenigstens mit offenen Karten zu spielen. Dass der Tod im Nationalsozialismus unzählige folgsam-begeisterte Helfer/innen finden konnte, scheint aus heutiger Sicht unvorstellbar. Einspruch? Einspruch! Betrachtet man die Gedichte Lili Grüns als Ganzes, fällt unmittelbar auf, worunter das lyrische Ich am meisten leidet:

Es sind die das Subjekt einengenden gesellschaftlichen Arbeits- d.h. Alltagsstrukturen, die angepasste, unreflexive Bürger/innen hervorbringen. Lili Grün benutzt ihre literarischen Fähigkeiten, um sich „Luft“ zu machen und ihren Sehnsüchten einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Ihre subtile Kritik an bestehenden sozialpolitischen Verhältnissen ist zeitlebens auf zu wenig Resonanz gestoßen, um das Bewusstsein der Massen zu verändern. Vielleicht hatte ihre Lyrik auch gar nicht diese Absicht, Literatur muss ja nicht forciert politisch sein. Möglicherweise würde sie auch ihren poetischen Glanz verlieren, aber eine Debatte darüber führt zu weit. Was ich betonen möchte ist deren erschreckende inhaltliche Aktualität. Die Tatsache, dass wir die beklagte subjektauslöschende Wirklichkeit in den thematisierten abgeschlossenen Systemen als unsere eigene erkennen könnten, wenn wir noch einen Rest an widerständigen, belebenden, liebenden und wütenden Emotionen fänden, die uns darüber bewusst werden ließen.

Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han charakterisiert das Gefühl der Wut in der Abhandlung „Müdigkeitsgesellschaft“ als „ein Vermögen, das in der Lage ist, einen Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen“. Ohne energetische Wut fehlt nicht nur die Kraft auf gesellschaftliche Missstände zu reagieren, sondern bereits die (emotionale) Fähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und eine Veränderung bestehender Verhältnisse herbei zu führen.

Lili Grün besaß (noch) genügend wütende Sehnsucht, um wunderbare Lyrik entstehen zu lassen. Poetische Texte aus einer vergangenen Zeit, die uns einen (kritischen) Blick auf die Gegenwart geben, wenn wir ihn denn umherschweifen lassen.

 

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